Das Deutsche Historische Museum zeigt die erste große Ausstellung über Wilhelm und Alexander von Humboldt. Die Brüder stehen zum einen für Urteilskraft, diplomatisches Geschick und wissenschaftliche Neugier, ihre Biografien zeigen aber auch, wie sehr sie von den Gegensätzen und Ambivalenzen ihrer Zeit geprägt worden sind.
„Wilhelm und Alexander von Humboldt“ – zwei Brüder, eine Ausstellung
Ausgehend von den sehr unterschiedlichen Lebenswegen der Brüder Humboldt ordnet die Ausstellung ihr Denken und Wirken in das ausgehende 18. und beginnende 19. Jahrhundert ein. Auf 1.000 qm werden 350 zentrale Objekte gezeigt: darunter Leihgaben aus den Vatikanischen Sammlungen, dem Louvre, dem British Museum und Windsor Castle.
Die Kuratoren Bénédicte Savoy und David Blankenstein nutzen eine transnationale Perspektive, um die gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Verhandlungs- und Gestaltungsräume, die sich den Brüdern Humboldt und ihrer Generation eröffneten, aufzuzeigen.
Prof. Dr. Raphael Gross, Präsident des Deutschen Historischen Museums: «Die Brüder Humboldt stehen für „Bildung“ und „Wissenschaft“. Beide Bilder sind im Positiven wie im Negativen stark mit der deutschen Geschichte verbunden. Heute scheint es manchmal so, als wolle man die historische Reflexion auf das Leben und Werk der beiden hinter der Bewunderung zurücktreten lassen. Sie stehen dann für eine deutsche natur- und geisteswissenschaftliche Meisterleistung, die irgendwie noch unberührt von den Linien zu sein scheint, die in die Abgründe des 20. Jahrhunderts führen. Die Leistung der Brüder Humboldt historisch-kritisch in den Blick zu nehmen, kann dagegen einen neuen Zugang zur Dialektik der Aufklärung eröffnen.»
Die Kuratoren Prof. Dr. Bénédicte Savoy und David Blankenstein: «Vor etwa 20 Jahren sind die Brüder Humboldt überhaupt erst wieder in das Blickfeld der Öffentlichkeit geraten. Heute scheinen sie wie die neu gefundenen Helden der Bundesrepublik, Vordenker unserer Gegenwart, Verkörperung vieler Ideale, wahre Mythen. Verstehen können wir sie jedoch nur in ihrer Zeit – als Europäer, als Zeugen der Aneignung der Welt, als Akteure politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Reibungsprozesse, die neben Licht auch viel Schatten warfen. Wir möchten mit der Ausstellung an die Substanz gehen, das heißt auch, den zusammengetragenen Objekten Geschichten zu entlocken, wie sie noch nicht erzählt wurden.»
Erzählen in Objekten
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit den Brüdern Humboldt stehen Originalobjekte aus ganz Europa – darunter zahlreiche Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, Tagebücher, Briefe, Landkarten, Sammlungs- und Forschungsgegenstände, Mobiliar und Messinstrumente, die erstmals gezeigt werden. Sie eröffnen unerwartete interdisziplinäre und transnationale Bezüge: So veranschaulicht ein antikes Marmorkrokodil in der Gegenüberstellung mit Alexanders anatomischer Zeichnung eines sezierten Krokodils die Prozesse von Wissensaneignung, Kunsterfahrung und Weltbetrachtung. Ein Cacolet genannter Reitsattel, der Wilhelm auf seiner Reise durch das Baskenland und die Pyrenäen als Transportmittel diente, zeugt von der neugewonnenen Mobilität seiner Generation. Ein monumentaler Pferdekopf der von den napoleonischen Truppen geraubten Quadriga des Brandenburger Tors, in dessen Raub und Restitution Alexander involviert war, verdeutlicht exemplarisch die politischen Schlachtfelder Europas zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Matrix Europa
Anhand der jüngeren Forschung setzt die Ausstellung in sieben thematischen Sektionen das Handeln der Brüder miteinander in Beziehung. Ausgehend von der gemeinsamen Berliner Kindheit und Jugend blickt sie auf ihre vielgestaltigen wissenschaftlichen und politischen Karrieren: Aufgewachsen unter dem Eindruck von Aufklärung und Französischer Revolution und geprägt durch moderne pädagogische Konzepte und neue gesellschaftliche Netzwerke strebten beide nach geistigen und räumlichen Grenzüberschreitungen in Natur- und Sprachwissenschaften, Politik und Diplomatie. Beide sahen sich dabei einer Grundidee von Globalität verpflichtet, die gleichwohl fest im Koordinatensystem Europa verankert blieb. Das neuformulierte Verhältnis von Denken, Raum und Fortschritt offenbarte sich im Beforschen von Landschaften, Menschen und Kulturen, die sie zum Gegenstand ihrer Beobachtungen machten: Bewegungen, die erst unter den Bedingungen des europäischen Kolonialismus möglich wurden und nach heutigen Maßstäben fragwürdige Praktiken aufwiesen.
Zuletzt blickt die Ausstellung erneut nach Berlin, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der neugegründeten Universität, der Sternwarte und dem Alten Museum nach Ideen der Humboldts zu den großen europäischen Metropolen aufschloss und das Sammeln außereuropäischer Artefakte als politisches Projekt der adligen und bürgerlichen Eliten etablierte – eine wissenschaftliche Praxis, deren Folgen wir in der Gegenwart diskutieren.
Die Ausstellung ist inklusiv und barrierefrei. Inklusive Kommunikations-Stationen, die jeweils mindestens zwei Sinne ansprechen, sind neben einem taktilen Bodenleitsystem, Gebärdensprachvideos, Ausstellungstexten in Braille, kontrastreicher Großschrift und Leichter Sprache Teil der Ausstellungsgestaltung. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog in deutscher Sprache (296 Seiten, 150 Abbildungen, 35 €). Ein hochkarätig besetztes Begleitprogramm vertieft und erweitert die Themen der Ausstellung (Anmeldung erforderlich).
Bildrecht: Deutsches Historisches Museum
Datum: 21.11.2019 – 19.04.2020