Algorithmic Weed. Als Algorithmus bezeichnet man eine Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems. Der Begriff stammt aus der latinisierten Form des arabischen Namens Al-Chwarizmi, eines im Frühmittelalter in Bagdad tätigen Gelehrten. Aus dessen Buch über mathematische Gleichungen ist auch der Begriff Algebra abgeleitet. Häufig sind Algorithmen arithmetische Handlungsvorschriften, mathematische Rechengänge also. Als Weed bezeichnen wir das Rauschmittel Cannabis, aber auch Pflanzen, die vom Wind als feinverzweigte Kugeln über den Erdboden geweht werden. Ikonisch wurden diese Pflanzen durch Westernfilme, in denen sie der Wüstenwind durch Geisterstädte rollt.
Algorithmic weed rolls like cyberdog´s shit in the desert of art. Wie der Rauch des Cannabisharzes, szenesprachlich Shit, wird im Titel der Ausstellung allerhand maschinengeneriertes, algorithmisches Gestrüpp durch die Wüste der Kunst geweht. Der Titel führt die BesucherInnen direkt in die sonst gleißende weiße Wüste des White Cube, den Feuerstein allerdings in eine dämonisch vernetzte Blackbox verwandelt hat. Eine Totalinstallation voller Technik und Natur, Information und Geist, Maschinen und Dämonen; eine digital-animistische Welt, ein Pandämonium.
DAIMON
Im Zentrum der Ausstellung eine raumgreifende Installation: DAIMON. Unter der Hallendecke eine Kugel wie eine Lampe, auf dem Boden ein Kubus wie ein Tisch, nicht weit entfernt ein sesselähnliches Objekt. Die drei schwarzen, abstrahierten Einrichtungsgegenstände sind mit hunderten Metallbuchsen versehen, in denen schwarze Kabel stecken, welche die Objekte miteinander verbinden. Derart entsteht ein Netzwerk im Raum, aber auch eine Zeichnung auf dem Galerieboden. Die Bodenzeichnung wird auf einer Wandtapete, auf der Kabelbuchsen und Drehregler abgebildet sind, zweidimensional fortgeführt. DAIMON erinnert aufgrund seiner einrichtungsähnlichen Gegenstände an ein Wohnzimmer, wegen der schwarzen, gummiartigen und metallenen, fetischhaften Komponenten aber auch an einen Darkroom.
GOVENOR
DAIMON ist verkabelt mit dem GOVERNOR, einem Fliehkraftregler. Fliehkraftregler sind mechanische Teile, welche die Drehzahl von Maschinen über einen Regelkreis konstant halten. James Watt baute sie im 18. Jahrhundert in Dampfmaschinen und optimierte so die Maschine, die das Symbol der industriellen Revolution wurde.
Für Feuerstein ist vor allem interessant, dass Fliehkraftregler sich kybernetisch selbst steuern und damit als proto-intelligente Maschinen betrachtet werden können, als eine Vorform künstlicher Intelligenz. Dieser Interpretation entspricht auch der Clou des GOVERNOR: statt Dampf lässt Feuerstein Information durch den Fliehkraftregler strömen. Digitale Daten fließen durch den GOVERNOR und zeigen in Echtzeit, wie viele Cyberangriffe weltweit gerade stattfinden. Umso größer die Zahl der Angriffe, desto höher die Drehzahl des GOVERNOR. Wegen des russischen Krieges gibt es derzeit viele Hackerangriffe und der Regler dreht sich schneller.
Der Fliehkraftregler von Feuerstein steuert also nicht, er macht sichtbar. Nicht die Informationsprozesse selbst, aber doch deren Anzahl. Unsere Welt ist durchzogen von Informationsströmen, die wir nicht wahrnehmen können. Daten fließen durch Kabel oder bewegen sich in Wellen. Wenn wir telefonieren, mag uns dies noch bewusst sein. Daten fließen aber auch im Internet der Dinge, durch Kabel oder elektromagnetisch durch die Luft. Viele Haushalts- und Bürogegenstände sind an das Internet angeschlossen, ebenso Fahrzeuge. Wenn wir im Wohnzimmersessel sitzen, fließen überall Informationen, ohne dass wir davon Notiz nehmen. Hacker können diese viele Milliarden vernetzten Alltagsgegenstände missbrauchen, um Angriffe auf die Rechner ihrer Opfer durchzuführen. Auch dies nehmen wir nicht wahr, wenn wir nicht gerade auf die beiden sich umkreisenden Kugeln des GOVERNOR schauen.
Animistische Auffassungen gingen davon aus, in jedem Naturgegenstand lebe ein Geist. Nach dem Stand der Wissenschaft gibt es keine Geister, so dass diese Annahme falsch war. Heute leben wir in einer entzauberten Welt und müssen feststellen, dass viele Gegenstände dennoch fast magisch miteinander verbunden sind, ohne dass wir dies wahrnähmen. „Hinter den Dingen“ strömen Informationen und Daten werden ausgetauscht. In gewisser Hinsicht irren wir also wieder. Vielleicht bräuchten wir ein neues Wildes Denken im Sinne von Claude Lévi-Strauss. Ein Denken, dem inhärent ist, dass alles mit allem verbunden und von geisterhaften Informationen durchströmt ist. Infomismus könnte man dieses Denken in Abgrenzung zum Animismus nennen. DAIMON und GOVERNOR verweisen auf dieses Denken.
BANKETT
Mit DAIMON verbunden ist auch der Flipperautomat BANKETT. Seine Grafiken sind schwarz-weiß, die Leuchtelemente farbig. In der Mitte des Kopfaufsatzes ein hirn- oder auch darmähnliches Gebilde, um das strahlenförmig Wörter angeordnet sind, welche um die condicio humana kreisen: Lust, Schmerz, Hoffnung, Neugier, Neid, Angst … vierzig Begriffe. BANKETT hat, wie jeder Flipper, etwas von einem Esstisch, um den man sich versammeln kann. Unter anderem beleuchtet BANKETT das Wechselverhältnis zwischen Herr und Knecht im Zusammenhang mit Maschinen.
BANKETT ist voll funktionsfähig. Anders als beim Cyberangriff, der ohne Interaktion abläuft, bestimmt sich das Verhältnis von Mensch und Maschine beim Spielautomaten in der Interaktion. Dabei kann es zu einer paradoxen Dynamik kommen. Je mehr der Spieler das Spiel zu beherrschen meint, desto mehr wird er auch dessen Knecht. Nicht immer ist klar, ob der Mensch die Maschine beherrscht oder umgekehrt. Wer ist Herr, wer Knecht?
Jeder Spielautomat, gleichgültig ob Computerspiel oder Flipper, kann zur Paradiesmaschine werden, in welcher der Mensch sich vergisst, Zeitlosigkeit erfährt, erlöst wird von den Fesseln des Alltags. Die Maschine kann aber auch zur Hölle werden, wenn aufgrund der Fesselung an die Maschine der Alltag nicht mehr bewältigt werden kann. Dann wird der Spielautomat zur Höllenmaschine.
Nach dem letzten abendlichen Mahl am Bankett entscheidet sich, wer in den Himmel kommt, wer in die Hölle. Beim Flipper hat der Spieler nur einen begrenzten Einfluss auf die Kugel und somit das Spiel. Im Wesentlichen kann er die Kugel durch einen Knopfdruck mit einem der beiden Flipperhebel ins Feld schleudern. Bei BANKETT heißen die Hebel Master und Servant. Irgendwann geht die Kugel unweigerlich verloren: wenn sie zwischen Master und Servant in den Bauch des Automaten rollt. Dann fällt die wahre Entscheidung im Spiel des Lebens. Himmel oder Hölle.
ORACLE
ORACLE ist auf den ersten Blick eine amputierte Lenin-Skulptur. Ohne Arme, ohne Beine, ohne Stimme. Ein Kopf auf einem Rest von Rumpf in einem Rollstuhl. ORACLE ist mit dem Internet verbunden und kann Licht und Schall wahrnehmen. Während das Daimonion des Sokrates diesen nur warnte oder schwieg, nickt ORACLE nur zustimmend oder schweigt. Beim Nicken schwingt der Kopf auf der Radachse vor und zurück. Schwieg das Daimonion des Sokrates, deutete Sokrates dies im Umkehrschluss als Zustimmung. Da Lenin nur zustimmen kann, wird sein Schweigen als Warnung verstanden werden müssen.
ORACLE ist doppelt codiert. Wie der GOVERNOR verweist er auf unsichtbare Informationsströme, hier durch seine Rezeption von Licht-und Schallwellen und seine Reaktion darauf. Vor allem stellt ORACLE aber die Frage nach dem Wesen von Intelligenz. Das Daimonion des Sokrates, der analytisch, strukturiert und logisch denken konnte wie wohl kaum ein anderer, war eher eine innere Stimme, eine Intuition, sein Bauchgefühl. Sokrates bediente sich also zweier Arten des Denkens, der analytischen und der intuitiven, man könnte auch sagen der ästhetischen. Damit verweist ORACLE auf einen Umstand, der bei der Bewertung künstlicher Intelligenz oft übersehen wird. Denken ist etwas Biologisches und geschieht nicht frei von Emotionen. Sokrates verließ sich auf sein Bauchgefühl. Der Schachweltmeister Magnus Carlsen beispielsweise mag ein großer Analytiker sein. Wie jeder Mensch spielt er jedoch auch intuitiv und emotional. Wenn er verliert, ärgert er sich. Ein Schachcomputer ärgert sich nie. Er rechnet und gewinnt. Er freut sich auch nicht über ein gewonnenes Spiel. Wenn das Spiel zu Ende ist, hört er auf zu rechnen. Jeder Schachspieler kennt schöne Stellungen. Ein Rechner nicht.
Wladimir Iljitsch Lenin galt der Kommunistischen Partei als unsterbliches Genie. Nach seinem frühen Tode ließ man sein Gehirn von dem deutschen Hirnforscher Oskar Vogt in tausende von Scheiben schneiden. Obwohl Lenins Hirn durch schwere Schlaganfälle beschädigt war, meinte Vogt, in dessen Struktur doch den Grund für Lenins Genie erkennen zu können. Das ist eher unwahrscheinlich. Aber hier schließt sich der Kreis zu Feuersteins Arbeit DAIMON. Denn dem griechischen Daimon entspricht der römische Genius, aus dem sich der Begriff Genie ableitet. Und so ist auch der Ingenieur letztlich derjenige, der den Geist in die Maschine bringt. Was uns zur künstlichen Intelligenz zurückführt, in welcher der Daimon steckt. Denn der Daimon ist überall. Im Toaster, in der Waschmaschine. Eine digital beseelte Welt. Ein Pandämonium.
Pandemonium
Pandemonium, in der deutschen Schreibweise Pandämonium, besteht aus verschiedenen C-Prints gleicher Größe. Wie in einem Bücherregal sind auf diesen hunderte von Buchrücken abgebildet, deren Titel Begriffe einer neuen Dämonologie von der Antike bis zur Gegenwart versammeln. Die Begriffe sind etymologisch, phänomenologisch oder strukturell mit dem Daimon verbunden. Bei einigen ist die etymologische Verbindung nicht jedem bekannt. Ein Beispiel hierfür dürfte die Demokratie sein. Demos ist das Staatsvolk. Abgeleitet ist Demos aber von Daimon. Das indogermanische Da bedeutet teilen oder zuteilen. Der Daimon teilt also zu und überwacht das staatliche Zusammenleben in der Polis.
Ein Beispiel für eine inhaltliche Verbindung zum Daimon ist der Parasit oder der Alien. Alien kommt vom lateinischen alius, das Andere. Parasit bedeutete ursprünglich Tischgenosse. Aliens wie Parasiten dringen in den Körper, in die Seele oder in eine Gemeinschaft, die sie unterwandern. In vielen Mythen des Altertums werden Menschen von Krankheiten befallen, wenn der Dämon in sie dringt. Auch in christlichen Vorstellungen sind Menschen von Dämonen besessen, die ausgetrieben werden müssen, damit die Krankheit geheilt werden kann.
Der französische Biochemiker Jacques Monod bezeichnete Enzyme als Dämonen, weil sie den Stoffwechsel steuern. Als Daemon wird auch ein Computerprogramm bezeichnet, das seine Aufgaben automatisch erledigt, ohne explizit abgerufen zu werden. Die Stadt London zum Beispiel wird von über einer halben Million Kameras überwacht. Weil menschliche Wächter mit der Überwachung einer solchen Zahl von Bildern überfordert wären, wird künstliche Intelligenz bei der Beobachtung eingesetzt, einschließlich Daemons. Die Dämonen der Information und die Daemons in Computerprogrammen sind in einer Stadt wie London also allgegenwärtig. Wie der transformierte White Cube in der Ausstellung ALGORITHMIC WEED, ist auch London mit hunderttausenden künstlichen Augen eine dämonische Blackbox. Das heißt nicht, dass wir uns dort nicht wohlfühlen würden. Das tun wir wahrscheinlich. Wie in unserem Wohnzimmer.
COSMOSE
COSMOSE ist eine Kohlezeichnung aus der Serie „Kohle für die Kunst“. Die Zeichnungen setzen einen technisch kontrollierten biologischen Prozess voraus. Die Kohle für seine Zeichnungen gewinnt Feuerstein aus Algen, die er in von ihm konstruierten Skulpturen züchtet und karbonisiert. COSMOSE changiert zwischen Natur und Technik und das Gebilde der Zeichnung sieht der bildlichen Vorstellung eines ALGORITHMIC WEED wahrscheinlich nicht unähnlich. Der technoide Ballen hat etwas von einem Asteroiden, bestehend aus einem Leitungssystem in Verbindung mit etwas Organischem, das an Gedärm oder Hirnwindungen erinnert. Das Gebilde könnte symbolisch auch die riesige Blackbox sein, in der wir alle leben und gefangen sind. Möglicherweise stellt sich diese Blackbox aus großer Entfernung und aus dem Kosmos betrachtet, ähnlich dar. Aus der Sicht von Aliens mit einem anderen Wahrnehmungsapparat, die in ungewisser Zukunft in unsere kosmische Blackbox und deren algorithmisches Gestrüpp dringen werden. Denn Osmose ist die Durchdringung von Zellwänden nur in eine Richtung. Aliens können also in unsere Blackkox eindringen, wir aber nicht aus dieser hinaus. Wir sind gefangen im Netz.
Glücklicherweise sind die BesucherInnen der Ausstellung nicht in Feuersteins dämonischer Blackbox gefangen. Sie können jederzeit aus dem White Cube hinaus ins Freie treten. Möglicherweise sogar mit einem geschärften Bewusstsein dafür, dass wir von Dämonen umgeben sind. Sie ahnen dann, dass sie bereits besessen sind. Denn der Daimon ist nicht nur in uns, wenn wir besessen sind, er ist auch in den Dingen, mit denen wir unauflöslich vernetzt und versponnen sind. Wie Algorithmic Weed treibt uns der Wind durch den leeren Kosmos. Vielleicht hilft es, erstmal einen Joint zu ziehn. Oder ne Runde zu flippern. Und dann: Ab in den Himmel! Oder die Hölle …
Thomas Feuerstein: ALGORITHMIC WEED rolls like cyberdog’s shit in the desert of art
17 September 2022 – 19 November 2022