Die Ausstellung “Sunless Circuit” von Su Yu Hsin wird in der Galerie Alexander Levy präsentiert. Einmal im Monat downloade ich Bilder von meinem Handy auf eine Festplatte. Wie besessen halte ich Teile des Lebens fest, um sie kurz darauf einzuschläfern. Das Auge der Kamera ist besser als meins: Es zoomt rein, ohne nah herangehen zu müssen, und hält fest, was ich bald vergessen habe. Während ich abwesend bin, lebt das wachsende Archiv weiter und wartet auf ein außergewöhnliches Ereignis, das es wieder zum Leben erweckt: eine zufällige Verbindung aus der analogen Welt.
Erinnerung ist nicht etwas, das wir haben, sondern etwas, das geschieht: ein Netzwerk unbeabsichtigter Verbindungen. Während das Erinnern eine Form der Fürsorge darstellt, ist das Speichern eine Art des sicheren Vergessens. Unsere Geräte kennen uns besser als wir sie. Der Algorithmus ist ein Orakel, das unsere Geheimnisse aufzeichnet und sowohl Fragen als auch Antworten vorhersagt. Die Versprechen der Technologie sind vielfältig. Eines davon ist, dass alle Informationen für immer verfügbar sein werden. Doch wie die Vergangenheit besteht auch das Internet aus ‚Broken Links‘ und Fehlern. Keine Wolke hält ewig, auch nicht jene, die im Silicon Valley geboren wurde. Wie oft haben wir den Schwindel der nicht mehr zugänglichen Daten gespürt? Wenn Maschinen ausfallen, nehmen wir sie nicht mehr als selbstverständlich hin. Störungen sind Teil ihrer Funktion. Sobald sie wieder funktionieren, gewinnen sie ihre trügerische Immaterialität zurück.
Wir leben in angespannten Zeiten, in denen die obsessive Aufzeichnung Teil einer kollektiven Amnesie ist. Das Erinnern an die Zukunft verbirgt die unerfüllten Versprechen technologischer Erzählungen. Was uns ursprünglich befreien sollte, hat uns stattdessen von einem leuchtenden Bildschirm abhängig gemacht. Gleichzeitig passt die apokalyptische Rhetorik einer Zukunft, die bereits stattgefunden hat, nicht zur Schlichtheit unserer täglichen Gesten. Wie viel Schaden kann das einfache Drücken von Tasten und das Berühren von Bildschirmen anrichten? Der Austausch von Informationen – was ist daran falsch? Wie können die kleinen Bewegungen unserer Hände in ein Ereignis von planetarischem Ausmaß verwickelt sein? Wie kann eine liebevolle Botschaft in die extraktive Wunde der Kolonialgeschichte eindringen? Während ich Dateien von einem Gerät auf ein anderes übertrage, bin ich auch Teil einer anderen Geschichte: der unsichtbaren Arbeit, die Frauen und Maschinen zusammenbringt. Das Fließband hat die Fabrik längst verlassen und ist in unsere Intimsphäre vorgedrungen. Aber die Fabrik ist nicht verschwunden, sie wurde immer größer. Obwohl wir Teil der derselben Geschichte sind, macht sie uns nicht zu Gleichberechtigten. Während einige von uns von der Hypervernetzung der Dinge profitieren, leiden andere unter ihr. Dennoch wird es immer schwieriger zu erkennen, ob die Maschinen uns zu Diensten sind oder wir ihnen. Als Nachbildungen aus Fleisch und Blut verlassen wir uns auch auf externe digitale Erinnerungen, die sich mit jeder Aktualisierung von der Vergangenheit lösen. Aber eines können intelligente Maschinen noch nicht: denken. Denn um denken zu können, muss man vergessen.
Auch wenn das häufig verwechselt wird: Erinnern ist nicht dasselbe wie das Speichern von Daten.
Vor dem Internet existierte ein anderes planetarisches Urarchiv. Wie so viele andere Elemente der Erde erinnert auch Wasser an längst vergangene Welten. Satellitenbilder der Ozeane zeigen den flüssigen Zustand des Planeten Erde in der Thermosphäre. Unsere externe Lebensquelle ist die Folge einer kosmischen Reise durch das Universum. Dank der Satelliten können Wasserwellen in Radiowellen rund um den Planeten reisen. Wasser dient als Archiv des Erinnerns und Vergessens, ähnlich, aber dennoch ganz anders als moderne Technologien. Was in seine Tiefen fällt, bleibt darin verborgen. Alles, was sich im Wasser auflöst, wird Teil seiner Tiefenzeit. Wasser fließt durch viele Körper, auch durch solche, die trocken erscheinen. Wie bei Erinnerungen braucht es sie, um eine konkrete Form anzunehmen. Unsere mineralischen elektronischen Geräte ahmen die Strömungen nach, die sie hervorbringen. Informationen laufen unaufhörlich, angetrieben von Partikeln aus künstlichem Licht.
Technologie ist ein durstiges, doch wasserscheues Wesen. Die körperlose Datenquelle vertrocknet die Erde, aus der die Mineralien in unseren Geräten stammen. Jahre später kehren sie zurück und verursachen ein Brachland, in dem die Hardware nie ganz verschwindet. Die neusten Maschinen bewegen sich nicht und wir können sie nicht sehen, doch sind sie überall. Sie folgen uns auf Schritt und Tritt versteckt in unseren persönlichen Geräten. Das kleinste Teil, ein Mikrochip, ist zum mächtigsten Element geworden. Die Miniatur maximiert unsere Erfahrungen und bewegt große Mengen an Geld und Wasser. Der menschliche Körper ist jetzt anorganisch, verbunden mit einem drahtlosen Netzwerk, das seine massive Infrastruktur auf dem ganzen Planeten verbirgt. Das Aus- und Einschalten jedes beliebigen Geräts setzt eine globale Wirtschaft in Gang, die von der Produktion integrierter Schaltkreise und Halbleiter angetrieben wird. Wir benötigen sie für nahezu alles. Die außergewöhnlichste Technologie ist heute ein winziges Teil, welches für das Funktionieren der alltäglichsten Dinge unerlässlich ist. Was unbemerkt bleibt, birgt viel Macht.
Als ich ein Kind war, wurden viele Dinge in Taiwan hergestellt. Das war der spürbare Beginn einer Globalisierung, derer ich mir damals nicht bewusst war. Erst viele Jahre später erkannte ich, dass Dinge nicht nur an einem Ort hergestellt werden, sondern Teil einer strategisch konzipierten Produktionskette sind, die über den ganzen Planeten verteilt ist. Im Informationszeitalter haben wir nie alle Informationen. Intransparenz ist Teil der Infrastruktur. Die Software überstrahlt die Hardware. Je weniger wir wissen, desto weniger Fragen stellen wir. Mein Telefon und Computer lassen die globale Reise ihrer Technologie kaum erahnen: in Kalifornien entwickelt, zusammengebaut in China. Taiwan, wo die meisten der Halbleiter, die sie zum Funktionieren benötigen, hergestellt und exportiert werden, wird nicht erwähnt. Sie sprechen auch nicht über die extraktive Gewalt im Kongo, die es mir ermöglicht, diesen Text zu schreiben. Erst vor Kurzem ist mir bewusst geworden, dass Schreiben ein geologisches Ereignis ist, und dass die Erde Teil seines Ursprungs ist. Die Geschichte, wie wir sie kennen, begann mit Keilschrifttafeln aus Ton, Steinen mit Hieroglyphen, gefolgt von verschiedenen Schreibmineralien, bis bei der Entwicklung unserer heutigen Speichertechnologien komplizierte Wasserprozesse mit einbezogen wurden. Doch das Wasser, das für die Herstellung von Halbleiter-Siliziumscheiben so dringend benötigt wird, kann diese während des Prozesses auch beschädigen. Es muss Reinstwasser sein, das den hygienischen Anforderungen einer Industrie gerecht wird, die ihrerseits den Planeten verschmutzt. Rohwasser hat zu viel Leben in sich. Das Organische stellt eine Bedrohung dar, indem es von sich aus agiert. Je mehr sich Halbleiter entwickeln, desto größer ist ihr Wasserbedarf. Je kleiner sie sind, desto mehr Ressourcen verbrauchen sie. Aber das Problem ist nicht nur die Erschöpfung der Rohstoffe, sondern die Behandlung des Lebens als Ressource, die der Technik zur Verfügung steht. Bei der Suche nach einem ultimativen Speicher wird das tiefgreifende Gedächtnis übersehen, das dieser Planet seit Jahrtausenden besitzt Die Tatsache, dass unsere älteste Technologie, die Sprache, noch immer keine Synonyme für das Wort “Ressource” hat, ist sehr bezeichnend dafür, wie wir unsere Umwelt verstehen: als etwas, das immer für externe Bedürfnisse zur Verfügung steht.
Wie so viele Geschichten folgen auch die Mainstream- Erzählungen über Technologie und Wissenschaft einem evolutionären Drehbuch, das auf ein Endziel hinsteuert. Die Singularität ist eine der populärsten Erzählungen: Eines Tages werden die Maschinen die Menschen übertreffen, weil sie intelligenter sein werden als wir. Diese menschliche Prophezeiung wird durch die Tatsache bekräftigt, dass es eine Maschine braucht, um eine andere zu produzieren. Diese Co-Abhängigkeit hat etwas unheimlich Menschliches an sich. Aber damit Maschinen denken können, braucht es viel mehr als nur Daten. Derzeit kann die künstliche Intelligenz nur das denken, was Menschen bereits denken. So fortschrittlich sie auch sein mag, sie ist nicht so fantasievoll, wie wir glauben. Sie ist unser Spiegelbild – doch menschlich auszusehen allein reicht nicht aus, um ein Mensch zu sein. Der KI fehlt ein kulturelles Gedächtnis und sie kann keine Empathie empfinden. Jenseits unserer geliehenen Fantasien ist die Technologie ein profanes Wesen. Damit unsere Mikrochips hergestellt werden können, müssen Wassertruckfahrer*innen täglich von der Fabrik zum Fluss und zurück fahren. Diesem Weg fehlt die futuristische Ästhetik, welche technologische Errungenschaften umgibt. Und vielleicht sind deshalb Gesten des stillen Widerstands möglich, wie die Rückführung des Wassers zum Fluss, anstatt es zur Fabrik zu fahren. Denn auch der Widerstand besteht aus kleinen, miteinander verwobenen Wellen. Zu verstehen, wem Dinge gehören, ermöglicht es viele bestehende Narrative aufzulösen. Wasser gehört zu Wasser, und Ethik gehört nicht allein dem Menschen. Diese Narrative rückgängig zu machen, bedeutet nicht, eine Zukunftsvorhersage durch eine andere zu ersetzen, sondern sich an alle irdischen Qualitäten zu erinnern. Technologie ist eines der vielen Gebilde der Natur, wie komplex sie auch sein mag. Unsere hochentwickelten, siliziumhungrigen Geräte entstehen aus Sand. Die Zukunft rückwärts zu bewegen, bedeutet auch, sich daran zu erinnern, wie die Dinge ablaufen. Wenn es stimmt, dass sich die Technik irgendwann gegen uns auflehnt, dann sollte sie sich auch gegen unsere Vorhersagen über sie auflehnen. Sie könnte es sogar vorziehen, in ihre ursprüngliche Umgebung zurückzukehren. Wenn der Kreislauf unterbrochen wird, öffnet er sich für das Unbekannte. Einen Moment lang stelle ich mir eine andere Art der Singularität vor. Einen Moment lang stelle ich mir eine Singularität vor, in der körperlosen Daten das Rohmaterial fehlt, aus dem sie entstehen, und sie nicht mehr an unseren unvollständigen menschlichen Existenzen teilnehmen. Wie Wasser, das zum Gewässer zurückkehrt, kehren sie zur ungelösten Frage nach den Ursprüngen zurück: ein weiterer Ausgangspunkt für das, was weder beginnt noch endet.
Sonia Fernández Pan
Übersetzung Lydia Ahrens
Su Yu Hsin – Sunless Circuit
14.06.2024 – 19.07.2024