Buchtip. Gentrifizierung. Prenzlauerberg. Ex-Ost-Berlin. Vorbei? „Berlin ist ja bereits ausverkauft, lasst das Thema“, die ableckbaren Wildlederstiefel passen heute ganz besonders gut zum sündhaft teuren Retro-Bike, endlich styl-oh! und alternative sein in the middle of Berlin, Startup olé – alles schon gegessen und vorbei, das mit dem Ausverkauf der Stadt? Nein. Nicht für Matthias Weber.
Seine Kindheit verbrachte der Held des neuen Romans von Torsten Schulz in seinem geliebten Skandinavischen Viertel, Prenzlauerberg, Ost-Berlin in den 70er Jahren, wo er sich nicht nur jede Straße nach stundenlangen kindlichen Inspektionsrundgängen detailreich einprägte, sondern auch schräge, lustige, verstörende Erinnerungen nahe dem Mauerstreifen sammelte.
Jahre später kehrt er in die neue, alte, gentrifizierte Heimat zurück und beginnt aus einem amourösen Zufall heraus, eine Karriere als … ja, ausgerechnet als Makler.
Dabei sieht er so manchen Suffkopp mit Herz lieber im Kiez als neureiche Töchter und Söhne omnipotenter Manager-Väter und startet somit seinen eigenen Kampf gegen das System.
Höhepunkte und Abgründe deutscher Geschichte liegen in Berlin besonders nah nebeneinander. So auch in Matthias Webers eigener Lebensgeschichte und jener seiner engsten Familienmitglieder. Egal wie abstoßend sich ein Charakter bei Schulz auch verhalten mag – in jeder Figur liegt ein menschliches Drama, welches sie authentisch und nachvollziehbar macht. Es sind Originale, die das Leben schreibt, welche Schulz hier versammelt.
Auch historische Geheimnisse und schicksalshafte Zufälle fließen locker in Form von genau beobachteten Einzelheiten aus DDR-Zeiten in die facettenreiche Erzählung ein.
Eckpfeiler persönlicher Entwicklungsgeschichte zu extrahieren und sie gezielt, jedoch vom Leser unbemerkt, Stück für Stück bis zum Ende hin mit der Gegenwart, die es ohne jene Vergangenheit ja garnicht gäbe, zu verschmelzen, gelingt nur einem Meister der Dramaturgie.
Der 1959 geborene Professor Torsten Schulz, seit 2002 Prodekan des Studiengangs Drehbuch/Dramaturgie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, Bestsellerautor und international beachteter Vortragender, erlebte seine Jugendzeit in den 70er Jahren in Ost-Berlin.
Zahlreiche Drehbücher, Hörspiele, Bücher folgten auf das Studium Film- und Fernsehwissenschaft an der HFF Babelsberg (1982-86) und seiner darauffolgenden Arbeit als Dramaturg bei der DEFA. Der Roman „Boxhagener Platz“ (2004, Ullstein Verlag) und seine Verfilmung haben bereits die Vergangenheit Friedrichshains augenzwinkernd in die Unvergesslichkeit gerückt, mit „Nilowsky“ (2013, Klett-Cotta) ist dem Autor das grandiose Portrait eines zutiefst berührenden, ostdeutschen Jugendlichen gelungen, der Erzählungsband „Revolution und Filzläuse“ (2008, Ullstein Verlag) breitet ein Potpourri an DDR-Einblicken und Erinnerungen aus, ohne jegliche Spur von Ostalgie, dafür aber mit einer Menge Humor und Authentizität.
Der Sisyphos-Kampf eines „ganz normalen“ Berliners gegen die widrigen Auswüchse dieser vom Raubtierkapitalismus geprägten Zeit, hervorragend unprätentiös dargelegt von Berlins Meistererzähler Torsten Schulz, ist absolut lesens- nein, verschlingenswert.
SKANDINAVISCHES VIERTEL
Torsten Schulz
Roman. Klett-Cotta, 2018
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Beitragsbild: Torsten Schulz, Fotografin: (©) Annette Hauschild