Die Galerie alexander levy präsentiert anlässlich des Gallery Weekend Berlin und der Berlin Art Week eine Einzelausstellung von Sinta Werner. Werners Wandarbeiten, fotografische Objekte und Collagen setzen urbane Räume und architektonische Formen neu in Szene, um Vorstellungen von Perspektive und Raumkonzepten zu überdenken. Die streng formalen und zugleich atmosphärischen Arbeiten setzen vertraute Orte und Strukturen durch Überlagerungen, Spiegelungen und optische Verschiebungen in neue Zusammenhänge.
In ihren jüngsten Werken kommt dem Raster, einer allgegenwärtigen systematischen und sich wiederholenden Struktur, eine grundlegende Bedeutung zu. Das Raster ist das Ordnungssystem schlechthin, von perspektivischen Raumkonstruktionen der Renaissance über die Stadtplanung und Architektur bis hin zur Verarbeitung digitaler Daten, es leitet uns im Analogen wie im Digitalen. In Werners Fotografien taucht es in Form von Fassadenstrukturen oder Kacheln auf, welche den perspektivischen, geometrischen Aufbau und die grafischen, linearen Elemente des Bildes stark hervorheben. In der Arbeit Opportunities of Displacement bricht die Künstlerin das System des Rasters auf, indem sie transparente, auf Glas gedruckte Motive überlagert und so multiple räumliche Interpretationen provoziert. Das bestimmende Element des Fotoobjektes ist die Rasterung der Kachelfassade des Cultural Art Center Hong Kong. Die Linien des Fugenbild schweben in drei hintereinander gestaffelten Ebenen und verdichten sich zu Gitterstrukturen, die mehrdeutige Perspektiven schaffen. Beim Vorbeigehen der Betrachtenden entstehen Überlagerungen und Interferenzen der feinen Linienstrukturen, die eine optische Oszillation erzeugen.
Ein weiteres Mittel, die Starre und Gleichförmigkeit des Rasters zu durchbrechen, wird in einer Serie von mit Graphit und Wachs bearbeiteten Prägedrucken deutlich. Durch Unregelmäßigkeiten in der Prägung des Papiers und dem anschließenden Auftragen des Wachses entstehen Verdichtungen und Unschärfen, die der Strenge – in Rückbezug auf die konkret-konstruktivistische Kunst – eine malerische, organische Qualität entgegensetzen.
Im Hauptausstellungsraum treffen die Besuchenden auf eine großformatige, ortsspezifische Glasinstallation: ein sich wiederholendes Modul aus acht farbigen Glasscheiben, die direkt in Wandfugen eingesetzt sind und ein Raster bilden, das an einen Stadtplan oder eine technische Zeichnung erinnert. Wie bei den Passermarken wird jeweils ein Rechteck markiert; das Muster springt zwischen der Wahrnehmung der Rechtecke oder Kreuzungspunkte wie bei einem Vexierbild hin und her. Feste Koordinaten in der Aufsicht lösen sich bei einem seitlichen Betrachter*innenstandpunkt in ein konstruktivistisches Gefüge auf.
Glas als Mittel um Grenzen aufzulösen bleibt ein wesentliches Element in Werners Praxis. Es ermöglicht Überlagerungen, mehrdeutige Interpretationen und die Schaffung neuer Räume. In ihren jüngsten Arbeiten sind die erzielten Effekte vielfältig und werden jeweils durch die Bewegung der Betrachtenden durch den Galerieraum aktiviert.
Simultane Abweichung basiert auf der Fotografie eines Hallenbades, in dem die spiegelnde Wasseroberfläche eine gekachelte Wand dort erscheinen lässt, wo sie nicht ist. In der Arbeit wird die Wasseroberfläche zu einer Glasscheibe umgedeutet. Werner fügt damit eine weitere Dimension hinzu und spaltet den Bildraum. Die Durchdringung von Wand und Schwimmbadfliesen im Motiv erinnert bereits an eine Doppelbelichtung, die durch den Druck im Hintergrund und die bedruckte Glasscheibe im Vordergrund nochmals verdoppelt wird. Die Künstlerin interpretiert die Wasserspiegelung um und führt sie ad absurdum.
Einfassung des Blicks ist der Titel der beiden Rahmenobjekte, die auf Sockeln in der Ausstellung präsentiert werden. Einfassung des Blicks I verdichtet mehrere Tiefenebenen auf einer einzigen Fläche. Die Arbeit besteht aus einer bedruckten Glasscheibe und vier farbigen Glasscheiben (zwei in Orange und zwei in Blau), die in einer Art Paravent aus Holzrahmen eingefasst sind. Das gedruckte Motiv ist eine Glastür, durch die man eine Lobby im Hintergrund sieht und in der sich ein Außenraum spiegelt. In dem montierten Glasobjekt spiegelt sich dieses Phänomen der Räumlichkeit, der Hintergrund und die Spiegelung des Ausstellungsraums integrieren das Werk ebenso wie die farbigen Glasscheiben, die senkrecht dazu stehen. Die Möglichkeit, diese verschiedenen Ebenen zu erkennen, ist eine kognitive Leistung, die auf früheren Seherfahrungen beruht, die mit der Allgegenwart von zweidimensionalen Bildern in unseren durch Bildschirme vermittelten Alltagserfahrungen zusammenhängen.
Ein weiteres Wandobjekt besteht aus einem hölzernen Körper, der als Bildträger dient für eine Schwarz-weiß-Ansicht eines Wohnblocks und vorgesetzten Ayrylglas-Vierkantstelen. Die klar definierte blockartige Räumlichkeit der Wohnhäuser wird zu einem Spiegelkabinett, das die Wahrnehmung und die logische Entschlüsselung des Gesehenen herausfordert. In der Seitenansicht fügen sich die Bauteile logisch zusammen, in der Frontalansicht ist die Kohärenz des Bildes gebrochen. Der Bereich der Plexiglassstelen wirkt wie ein Störbild, in dem geometrische Formen schweben und sich neu anordnen. Während die räumliche Struktur des Gebäudes klar ist, setzen sich Bildfragmente, die in Zeit und Raum immer wieder neu erlebt werden, zu neuen Kompositionen zusammen.
Die gesamte Ausstellung ist eine Einladung, die eigene visuelle Wahrnehmung zu hinterfragen. Jedes Werk fordert die Betrachtenden auf, sich mit dem komplexen Zusammenspiel von Architektur und ihrer Wahrnehmung durch den fotografischen Filter auseinanderzusetzen. Das Raster lädt zu Wiederholungen ein. Um Werners Arbeiten wirklich zu sehen, muss man sie entschleunigen und immer wieder neu betrachten.
Beitragsbild: Sinta Werner, Einfassung des Blicks, 2023, Courtesy of the artist and alexander levy
Sinta Werner
15. September – 21. Oktober, 2023
Opening: 15. September, 18 – 21 Uhr