Fasst man das Buch von Andre Biakowski in einem Satz zusammen, dann erzählt uns der Autor in Briefform darüber, wie er freiwillig für ein Jahr nach Polen ging, als “Jesuit European Volunteer” im “Sozialmedizinischen Zentrum Maksymilian Kolbe” in Łódź arbeitete und täglich den letzten Überlebenden nationalsozialistischer Konzentrationslager und Getthos das Mittagessen – Obiad – brachte.
Allein der Titel “OBIAD-MEHR ALS NUR MITTAGESSEN” passt hervorragend, denn genau wie Andre Tag für Tag die Türen geöffnet wurden, nachdem er das Wort Obiad in die Sprechanlage gesagt hat, so vermag dieses Buch Türen und Herzen zu öffnen. Es kann sogar noch mehr – mit seinen Schilderungen gelingt es dem Autor, sie offen zu halten, damit wir niemals vergessen, was sich hinter ihnen respektive in unserer Vergangenheit verbirgt. Biakowski bringt es in einem Satz wunderbar auf den Punkt:
“Da ich zur letzten Generation gehöre, die mit Überlebenden des Holocaust in Kontakt treten kann, fragen darf und zuhören muss, bin ich beauftragt, mich gegen das Vergessen einzusetzen.”
Man kann als Leser nur den Hut ziehen und Danke sagen. Dafür, dass Andre Biakowski den Mut hatte, sich dieser Aufgabe auf eine im positiven Sinne sehr unprätentiöse Art und Weise zu stellen. Nicht mit großen Gesten, sondern mit seinem eigenen Einsatz und mit den Geschichten, die seit jeher die Kraft besitzen, Menschen zu verbinden und Vergangenes zu bewahren. Mit seinem Buch baut Biakowski eine Brücke. Er nimmt uns mit in ein Jahr seines Lebens, in ein vielen von uns fremdes Land und in den wohl schrecklichsten Teil der deutschen Geschichte. Und genau in dieser Verbindung liegt eine große Kraft, aufgeteilt in viele kleine Episoden, die teilweise bis ins Mark berühren.
Biakowski gelingt es auf eine sehr sensible und doch auch frische Art, den Leser teilhaben zu lassen, an dem, was er selbst gefühlt, erlebt, gedacht und gesehen hat – alles im Kontext der Begegnung zwischen ihm, dem Land Polen, der Sprache, der Stadt Łódź, den Menschen des Sozialmedizinischen Zentrums und den Überlebenden.
Manchmal klingen die Sätze etwas konstruiert und zu glatt. Doch das ist genau richtig so, denn was das Herz nicht begreifen kann, weil es bitter schmerzt, versucht der Verstand mit Logik zu richten. Es war ein wirkliches Lesevergnügen, diesem Prozess beizuwohnen und dabei zu beobachten, wie der eigene Verstand an vielen Stellen ebenfalls konstruiert, um sich vor der Machtgewalt der Erinnerung und den Bildern, die auch ich nur aus Geschichtsbüchern und Besuchen in ehemaligen Konzentrationslagern kenne, zu schützen.
Mich hat dieses Buch tief bewegt und mich selbst immer wieder fühlen lassen, dass wir natürlich über das kollektive Gedächtnis mit dieser Schuld verbunden sind, sie in uns tragen und auch an nachfolgende Generationen weitergeben werden. Meine Tränen, die ich an vielen Stellen des Buches nicht zurückhalten konnte und wollte, waren keine Mitleidstränen, sondern sie drückten den tief sitzenden Schmerz des Verlustes aus, den jeder von uns in der ein oder anderen Ausprägung kennt und der aufflammt, wenn die Überlebenden erzählen. Gleichzeitig spiegelt sich in den Tränen die Frage nach dem Warum, die auch den Autor immer wieder beschäftigt und auf die es einfach keine Antwort geben darf.
Wir können unsere Hypothek niemals abbezahlen, aber wir können dafür sorgen, dass so etwas nicht wieder geschieht. Im Jetzt. Durch eine Verbindung von Mensch zu Mensch, die von Herzen kommt und keine Grenzen und Sprachbarrieren kennt. Andre Biakowski hat mit “OBIAD-MEHR ALS NUR MITTAGESSEN” einen großartigen Beitrag dazu geleistet. (Jeannette Hagen)