Mehr Christo wagen

Mehr Christo wagen, Jeannette Hagen für Kunstleben Berlin

Wer einen Nachruf verfasst, sollte den Menschen, über den er schreibt, kennen. Das kann ich von mir nicht behaupten, insofern ist das hier auch kein Nachruf, sondern eher eine Dankeshymne. Eine, die die Hoffnung in sich trägt, dass das Werk dieses außergewöhnlichen Künstlers immer weiterlebt. Leben vergeht, Botschaften bleiben.

In ein paar Tagen hätte Christo, der mit ganzem Namen Christo Wladimirow Jawaschew hieß, seinen 85. Geburtstag gefeiert. Kein Grund für ihn sich auszuruhen, kein Grund, Pläne ad acta zu legen. Ausstellungen in Berlin und Paris standen an, im Herbst die Verhüllung des Arc de Triomphe. Irgendwo habe ich gelesen, dass in Christos Atelier keine Stühle standen, weil er nicht ruhen wollte. Er wusste wie kaum ein anderer um die Vergänglichkeit allen Seins und hat sie in wunderbaren Kunstwerken sichtbar gemacht.

Ich habe Christo wirklich erst wahrgenommen, als er und seine Frau 1995 den Berliner Reichstag verhüllten. Heute kann ich nur den Kopf darüber schütteln, wie ignorant ich damals war. Ich wollte es mir nicht ansehen. Mir ging der ganze Rummel auf die Nerven, ich konnte mir auch nicht vorstellen, was das alles sollte, warum man so ein Bohei um diese Verhüllung macht. Und dann stand ich eines Abends doch davor und war so berührt, dass ich von da an jeden Tag hingefahren bin und gestaunt habe: über das Farbenspiel, über die Sanftheit, über die Stimmung, die sich ringsherum ausbreitete, über die Geräusche, über das, was der Anblick in mir ausgelöst hat. Als die Stoffbahnen nach 14 Tagen entfernt wurden, habe ich geweint, weil ich das alles nicht loslassen und verlieren wollte.

Zeigen was ist, in dem man es verhüllt. Ging es darum? War Vergänglichkeit das Thema? Oder Kunst rauszuholen aus den Räumen, aus dem Mief, aus dem „was ist, was war und was immer so sein sollte“? Christo und seine Frau Jeanne-Claude haben Werke geschaffen, die niemand für möglich gehalten hätte. Werke, die man nicht kaufen, nur erleben konnte. Werke, die für alle zugänglich waren und doch wiederum nicht, weil ihre Botschaft nicht von jedem verstanden wurde. Es gibt Momente im Leben, in denen man die Kontrolle abgeben, seine Konzepte aufgeben muss, um den Augenblick mit allen Sinnen erfassen zu können. Wahrscheinlich war das das größte Geschenk, was in allem steckte, was die beiden Ausnahmekünstler*in geschaffen haben. Mich hat der Anblick des verhüllten Reichstags verwandelt. Für eine kurze Zeit hat er die ganze Stadt verwandelt. Bis der Zauber irgendwann verblasste und die alten Manuskripte wieder gelebt wurden. Natürlich nicht ohne Wehmut. Wenn ich heute den Reichstag sehe, sehe ich ihn verhüllt.

Dass der Tod Christos und das langsame Ausklingen des weltweiten Lockdowns zusammenfallen, ist natürlich ein Zufall. Und doch passen diese zwei Ereignisse zusammen. Die Welt wird eine andere sein und sie bräuchte Visionäre, wie Christo einer war. Sie bräuchte jene, die mit einem unbeugsamen Willen an etwas glauben, das die Seelen der Menschen berührt.  Sie bräuchte jene, die sich an dem, was sie schaffen, nicht bis ins Unendliche bereichern. Und sie bräuchte jene, die etwas sehen, was andere noch nicht sehen können – eine Wirkung, die weit über die eigene Bedeutsamkeit hinausgeht. Es wäre schön, wenn wir alle mehr Christo wagen würden.

In Berlin kann man derzeit in einer Ausstellung Bilder, Skizzen und Dokumente über die Verhüllung des Reichstags sehen:

https://www.museumsportal-berlin.de/de/ausstellungen/christo-und-jeanne-claude-projects-19632020/

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Veröffentlicht am: 03.06.2020 | Kategorie: Ausstellungen, Kolumne Jeannette Hagen, Redaktion-Tipp,

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