Für ihre erste Einzelausstellung “In Tongues” in der Dorothée Nilsson Gallery hat Linda Havenstein eine Reihe von Gemälden und Skulpturen geschaffen, die ihr Interesse an Sprache, Kodifizierung und dem Postdigitalen weiter verfolgt.
Ihre Malereien deuten das Figürliche an: Kreise, die über die Leinwand verteilt sind, kleine Farbexplosionen, die Assoziationen an vergrößerte Bildschirme wecken, die jedoch zu verpixelt sind, um ein originäres Bild zu erkennen. Man könnte versuchen, eine Symbolik oder Bedeutung in der Verwendung von Farbe zu finden. Die Titel geben einen leisen Hinweis darauf, was Havenstein zu vermitteln versucht, aber die Botschaft ist vielleicht nicht eindeutiog. Mixed Signals’, heiß und kalt, von Null auf Eins.
Die Skulpturen scheinen eine Auseinandersetzung mit der materiellen Kultur des 20. Jahrhunderts zu sein. Coca-Cola- und Vita Cola-Flaschen stapeln sich auf einer Palette, anderswo stehen Coke und Pepsi nebeneinander. Ihre Farben harmonieren, die Marken auf ihren Etiketten stehen in Konkurrenz. “A Lamp’s song”, die Bürolampe des DDR-Wirtschaftsministers Günter Mittag, blinkt im Morsecode und singt ein Lied über den Wunsch zu vergessen.
Die präsentierten Werke haben eine verborgene Ebene, die nur mit Hilfe der App Kassandra enthüllt werden kann. Sie bietet den Betrachter*innen eine zweite Lesart, indem sie die Werke aus einer binären Perspektive entschlüsselt. Dabei wird diese alltägliche Computersprache offengelegt, neu aufgeschrieben und den Betrachter*innen erlaubt, ihre materielle Qualität zu erkunden – so werden Nullen und Einsen zu leeren Flächen, zu lebendigen Kreisen oder gar Limonadenflaschen.
Durch die Verwendung von Polstertechniken erschafft die Serie “Skins” Objekte von “unbequemer Bequemlichkeit”: Scheinbar anschmiegsame, weiche Skulpturen hängen an der Wand und sind dadurch nicht benutzbar.
Mit der Serie werden verdichtete Bilder von eingängigem Wohlbefinden erzeugt und sie reflektiert, wie wir die Umwelt an unsere Komfort-Bedürfnisse anpassen – ein Kontext, der im Zeitalter des Klimawandels sehr fragwürdig geworden ist. Die synthetischen Materialien und Oberflächenstrukturen der Polsterung deuten auf einen organischen Körper hin, der aber nicht vorhanden ist. Im übertragenen Sinne sind es bleibende Veränderungen, die wir jetzt an unserem Planeten vornehmen – und die auch noch da sein werden, wenn wir schon lange verschwunden sind.
Havensteins wuchs in Ostdeutschland auf. Oft kehrt sie zurück zu den Geschichten, die ihr vor und nach dem Fall der Mauer erzählt wurden, und lässt sie implizit – oder ganz direkt – in in ihre Arbeiten einfließen. Havensteins Erzählungen sind verschlungen: Sie erforscht Sprache, interpretiert neu, was der*die Autor*in zu sagen versucht und auf welche Weise, und tut dies durch Morse- oder Binärcode oder in Vogelschwarm-Metaphern. Sie erforscht Medien der Vermittlung und schafft Systeme, die die Botschaft (neu) kodieren.
Linda Havenstein (*1984, Deutschland) lebt derzeit in Berlin. Sie studierte Japanologie und Journalismus an der Universität Leipzig. Ihre Arbeiten wurden im Aomori Contemporary Art Center, JP; How Art Museum, CH; Bangkok Biennale, TH; New York Hall of Science, US; und im Kunstraum Bethanien, DE ausgestellt. Sie war Finalistin für den Lumen-Preis und wurde als Changdong-Stipendiatin am National Museum of Modern and Contemporary Art Korea ausgewählt. Im Jahr 2020 nahm sie am Residenzprogramm des Seoul Museum of Art, KR, teil. „In Tongues“ ist ihre erste Einzelausstellung in der Dorothée Nilsson Gallery.
Beitragsbild: Linda Havenstein, Coke, 2021
Linda Havenstein – In Tongues
22. JANUAR – 5. MÄRZ 2022