Kolumne von Jeannette Hagen. „Je suis Charlie“ – wer erinnert sich nicht an die Kundgebungen und Demonstrationen, an die erste Reihe, in der Staatsmänner und -frauen ihre Solidarität und Einigkeit im Kampf gegen den islamistischen Terror bekundeten. Tage zuvor, am 7. Januar 2015 hatte ein Anschlag auf das französische Redaktionsbüro des Satire Magazins Charlie Hebdo, elf Menschen das Leben gekostet. Die Trauer und das Entsetzen waren groß, weltweit schwor man, sich nicht entzweien zu lassen.
Heute, sechs Jahre später, ist die Gefahr des Islamistischen Terrors lange nicht gebannt, gleichzeitig konnte in ihrem Schatten eine andere wachsen, deren Ausmaß vielen nicht einmal annähernd bekannt ist.
An diesem Punkt setzt der Film „Je suis Karl“ an. Als Zuschauer*innen werden wir Zeug*innen eines Anschlags, sehen, wie ein Vater zwei seiner Kinder und seine Frau verliert und seine große Tochter die Brüder und ihre Mutter. Man möchte mitschreien, so herzzerreißend ist ihr Leid, so brutal die Attacke, die aus dem vermeintlichen Nichts kommt.
Aber es gibt eine Vorgeschichte und im weiteren Verlauf wird schnell klar, dass die Zuweisung, dass es ein islamistischer Anschlag war, nicht stimmt, sondern dass ein perfider Plan hinter all dem steckt und ausgerechnet die Tochter Maxi (grandios gespielt von Luna Wedler) Teil dieses Plans ist.
Mit seinem Berlinale Beitrag rücken der Regisseur Christan Schwochow und der Drehbuchautor Thomas Wendrich ein Thema in den Blick, das akut ist, mit dem die Gesellschaft allerdings auf merkwürdig naive und verharmlosende Weise umgeht – die Gefahr von Rechts. Im Film kommt sie „sexy“, modern, divers und paneuropäisch daher – eine Generationsvision, der man sich gern anschließt, denn gibt es nicht tatsächlich viel zu verändern? Wer nach Springerstiefeln sucht, sucht vergebens. Wer Rassismus und Hass sucht, wird fündig. Verpackt sind sie in der smarten Figur Karl und seiner (RE)Generation-Bewegung – zugewandt, offen, zu allem bereit.
In meinen Augen ist es hervorragend gelungen, aufzuzeigen, wie leicht es Demagogen in unserer Zeit haben. Es hätte keinen Trump an der mächtigsten Position dieser Welt gegeben, wenn die Amerikaner nicht bereit für ihn gewesen wären. Bereit dafür, jemanden aussprechen zu lassen, was fast alle gedacht haben. Offen dafür, die Leerstellen, welche durch Einsamkeit und mangelnde Solidarität entstanden sind, mit Hass gegen andere und Andersdenkende zu füllen. Wer genau hinschaut, entdeckt den Mechanismus, der auch hierzulande funktioniert: die Verführung jener, die traumatisiert sind. Demagogen und Narzissten laufen immer dann durch offene Tore, wenn wir am verletzlichsten sind.
Für mich ist das die Lehre aus „Je suis Karl“: Zu verstehen, wie fragil wir momentan sind. Dass uns die starke Individualisierung viele Freiheiten gebracht hat, wir damit aber gleichzeitig an einem Kipppunkt stehen, weil wir eben nicht nur Individuen sind, sondern das WIR brauchen, um zu existieren und die Herausforderungen der modernen Welt zu lösen. Auch zu verstehen, wie ängstlich wir sind, weil das Rad sich immer schneller dreht, Klimakatastrophen näher an uns heranrücken, wir vor der Komplexität der Welt kapitulieren und wie verführerisch es dann ist, den einfachen Antworten und Versprechen zu folgen.
Seid wachsam, wenn die Karls dieser Welt an Eure Tür klopfen.
„Je suis Karl”
Bundesweiter Kinostart: 16.9.2021
Regie: Christian Schwochow
Drehbuch: Thomas Wendrich
Mit: Luna Wedler, Jannis Niewöhner, Milan Peschel, Edin Hasanovic, Anna Fialová und Aziz Dyab
Kamera: Frank Lamm
Musik: Tom Hodge, Floex
Szenenbild: Tim Pannen
Deutschland 2020, Länge: 126 Minuten
Im Verleih von Pandora Film