Kolumne: Film IGOR LEVIT – NO FEAR

Filmstart: Igor Levit, Kunstleben Berlin Kolumne von Jeannette Hagen

Kunstleben Berlin Kolumne von Jeannette Hagen. IGOR LEVIT – NO FEAR ist ein inspirierendes Porträt eines Ausnahmekünstlers, der sich auf dem Grat zwischen einer traditionellen Karriere und neuen, unbekannten Wegen in der Welt der Klassik bewegt.

Um es vorwegzuschieben: Ich bin keine Kennerin der klassischen Musik, sitze nur selten in klassischen Konzerten und in meinem Auto ist Klassik Radio nicht als Sender gespeichert. Warum ich mir den Film über den Pianisten Igor Levit trotzdem angeschaut habe? Weil Igor Levit so viel mehr ist, als ein Pianist. In der Gründerszene nennt man einen wie ihn: „Rulebreaker“. Anders formuliert: Er verschiebt Grenzen. Seine eigenen und die der Branche. Aber nicht nur das. Neben seinem künstlerischen Erfolg ist Levit politisch engagiert, spielt zum Beispiel bei Eiseskälte im Dannenröder Forst, um die Klima-Aktivist*innen zu unterstützen und ein Zeichen gegen die Rodung des Waldes zu setzen.

Die Filmemacherin Regina Schilling (Kulenkampffs Schuhe, Titos Brille) hat Igor Levit über zwei Jahre filmisch begleitet. Herausgekommen ist ein zärtliches und gleichzeitig kraftvolles Porträt, das mir auch jetzt, viele Tage nachdem ich es gesehen habe, das Herz erwärmt. Als wir Medienmenschen nach der Pressevorführung den Kinosaal verließen, war ich nicht die einzige, die zutiefst berührt und auch ein bisschen sprachlos war. Selten habe ich Musik so erlebt, noch nie war ich so dicht dran. Dazu vermag der Film etwas, das bei dokumentarischen Porträts nicht immer gelingt: Einen Menschen ein Stück seines Weges zu begleiten ohne ihn vorzuführen. Diese Gratwanderung war sicher nicht leicht, denn neben der Zärtlichkeit und der Zugewandheit, die Levit im Umgang mit dem Klavier, der Musik und in der Interaktion mit ihm nahestehenden Menschen zeigt, tauchen zwischen den Zeilen, Tönen und Momentaufnahmen immer auch wieder Exzentrik, Verzweiflung und eine schwer auszuhaltende Traurigkeit auf. Vielleicht geht das eine nicht ohne das andere, vielleicht muss die Amplitude in beide Richtungen gleich stark ausschlagen.

Ich habe während der Vorstellung oft überlegt, wie es wohl ist, so gefangen in dem Korsett des „Ausnahmekünstlers“ zu sein. Was es bedeutet, tagtäglich diesem Druck ausgesetzt zu sein, immer wieder auf höchstem Niveau abzuliefern. Wenn man Levit dann spielen sieht und fühlt, wie er sich der Musik hingibt, sich quasi in ihr auflöst, dann ahnt man, dass er gar nicht anders kann, als diese unglaubliche Gabe und sein Können an die Welt zu verschenken. Und dass es gleichzeitig ein Korsett bleibt, aus dem es selten ein Entrinnen gibt.

In einer Filmbeschreibung ist zu lesen, dass Levit, der 34 Jahre alt ist, sich am Klavier in eine „alte Seele“ verwandelt. Diese Beschreibung ist richtig und gleichzeitig falsch, denn es braucht wohl eine Art ungebändigte Hoffnung und Bedingungslosigkeit, wie man sie oft bei Kindern wahrnimmt, um in so einem hochenergetischen Leben nicht verrückt zu werden. Levit hat sich das bewahrt und die Momente, in denen es durchblitzt, gehören zu den berührendsten und gleichzeitig authentischsten Szenen des Films.

Mein Fazit: UNBEDINGT ANSCHAUEN!

Zum Film

IGOR LEVIT – NO FEAR begleitet den Pianisten bei der Erkundung seines “Lebens nach Beethoven”, bei der Suche nach den nächsten Herausforderungen, nach seiner Identität als Künstler und Mensch. Wir beobachten Levit bei der Aufnahme neuer Werke, seiner Zusammenarbeit mit seinem kongenialen Tonmeister Andreas Neubronner, mit Dirigenten, Orchestern und Künstlern, seinem intensiven Eintauchen in die Musik, seiner Hinwendung zum Publikum, diesem unwiderstehlichen Wunsch zu teilen. Dann bremst Covid dieses Leben unter ständiger Hochspannung von einem Tag auf den anderen aus. Über 180 gebuchte Konzerte in der ganzen Welt werden abgesagt. In dieser Situation des unfreiwilligen Stillstands ist Levit einer der ersten, der erfinderisch wird und mit seinen allabendlich gestreamten Hauskonzerten eine musikalische Lebensader zwischen sich und seinem Publikum auf Instagram und Twitter aufbaut. Während dieses Prozesses entdeckt er eine neue Freiheit, abseits der Zwänge des Tourneebetriebs, der Veröffentlichungen und der Vermarktung.

Filmstart ist der 6. Oktober

 

Veröffentlicht am: 03.10.2022 | Kategorie: Kino & TV, Kolumne Jeannette Hagen, Musik,

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