Die Galerie Tanja Wagner präsentiert die vierte Einzelausstellung Raw von Kapwani Kiwanga. Raw zeigt neue skulpturale Arbeiten, die aus Glas, Quarzsand oder Sisalfasern gefertigt sind. Jedes Werk bringt eine Inkongruenz mit sich: Auch wenn die Rohstoffe auf den ersten Blick leblos erscheinen, befinden sie sich in ständigem Wandel. Als ausgebildete Anthropologin beobachtet Kiwanga, wie diese Materialien im Laufe der Zeit mutieren, sich wandeln und weiterentwickeln. Wie Menschen und Kulturen, variieren auch ihre Partnerschaften und Verbindungen. Ihre Werte, sowohl in wirtschaftlicher als auch in kultureller Hinsicht, schwanken. In Raw stellt die Natur eine engagierte Akteurin im Verlauf der menschlichen Geschichte dar.
Natürliche Sisalfasern spiegeln die Geschichte einer extraktiven Wirtschaft und politischer Unterwerfung wider. Die Sisalfasern faszinierten Kiwanga, als sie bei einem Besuch in Tansania durch weite Landschaften fuhr. Diese waren mit den zum Trocknen aufgehängten Pflanzen überzogen. Die langen, weißen Fasern gehören zu den wichtigsten Nutzpflanzen Tansanias — obwohl das organische Material in Afrika fremd ist. Ursprünglich stammt die Pflanze aus Mexiko und wurde von deutschen Plantagenbesitzern im späten 19. Jahrhundert illegal nach Tansania importiert. Damals war der Rohstoff für die wachsende deutsche Wirtschaft unerlässlich. Heute ist sie dies für die tansanische Wirtschaft.
Kapwani Kiwangas Hour Glass Serie wurde ursprünglich für die 59. Biennale von Venedig konzipiert und wird in Raw mit vier neuen Shifting Sands Skulpturen in verschiedenen Farben fortgesetzt. Die Serie, die aus handwerklich bearbeiteten mundgeblasenem Glas und Fracking-Sand besteht, entstand mit Kiwanga Bewunderung für die Fähigkeit des Sandes, sich zu verwandeln. Sand entwickelt sich, nimmt neue Formen an und verwandelt sich in Glas – ein Prozess, der sowohl natürlich als auch industriell stattfindet. In den Skulpturen ist Fracking-Sand eingeschlossen. Dieser wirkt wie ein Schutz, dabei ist die Glasproduktion bekanntlich stark von der Sandgewinnung abhängig. Durch Fracking wird Quarzsand viel schneller abgebaut, als er sich auf natürliche Weise regenerieren kann – ein alarmierender Hinweis darauf, dass wir einer sandarmen Zukunft entgegensteuern.
Mit Raw eröffnet Kiwanga einen Raum, in dem die Betrachter*innen Zugang zu den Hintergründen der Rohstoffe in ihrer Geschichte sowie Zukunft erlangen. Es ist ein umfassender Versuch, die Umwelt jenseits hegemonialer Narrative besser zu verstehen. Kapwani Kiwanga schafft einen Raum, in dem die Betrachter*innen die Materialität in faszinierend ästhetischen Formen räumlich erfassen können. Dadurch wird ein Perspektivenwechsel ermöglicht. Dieses phänomenologische Angebot ist ein Akt der Fürsorge im Umgang mit unserer Umwelt, der die Pluralität der Geschichte anerkennt und unsere Gegenwart entmystifiziert.
Kapwani Kiwanga
14.03.2023 – 27.05.2023