„Die Eigenschaft des reinen Geistes ist das Schauen und nicht das Wissen.“, schrieb der Dichter und Arzt Justinus Kerner. Diese Aussage stellt die in Berlin lebende Künstlerin Ivana Franke mit ihrem Projekt Retreat into Darkness. Towards a Phenomenology of the Unknown (Rückzug in die Dunkelheit. Annäherung an eine Phänomenologie des Unbekannten) in Frage.
Sehen wir nur, was wir wissen? Wie können wir uns von unseren bequemen und vorgefertigten Sehgewohnheiten lösen und unseren Blick auf die Welt hinterfragen?
Retreat into Darkness. Towards a Phenomenology of the Unknown umfasst eine von Elena Agudio kuratierte Ausstellung in der Schering Stiftung, eine Reihe von Experimenten, die Ivana Franke zusammen mit Bilge Sayim, Professor für Kognitive Psychologie und Wahrnehmung an der Universität Bern, durchführt, ein interdisziplinäres Symposium und eine Publikation. Sie bilden gemeinsam die wesentlichen Bestandteile von Ivana Frankes künstlerischer Praxis, die auf einer umfassenden Untersuchung der Grenzen unserer Wahrnehmung basiert, die durch unseren Verstand, unseren Körper und unsere Umwelt konditioniert ist.
In ihrer neuen Installation bietet Ivana Franke dem Betrachter eine visuelle und körperliche Erfahrung, mit der sich unsere vorgefasste Sicht auf die Realität durchbrechen lässt und ihr damit andere, entschieden fiktive, imaginäre und kosmische Dimensionen verleiht. Lichtreflexionen schweben vermeintlich in der Luft und bilden wechselnde „Objekte“. Diese stehen zunächst still, wie eingefroren. Verändert der Besucher seine Position im Raum, geben die Objekte vor, sich in unerwartete Richtungen zu bewegen. Diese merkwürdigen Konstellationen scheinen sich tief in den Raum auszudehnen, nur um dann in einer Bewegung, die der Intuition widerspricht, wieder auf einen zuzukommen. Wie beim Beobachten von funkelnden Glühwürmchen hat der Betrachter von Frankes Installation die Möglichkeit, einen flüchtigen Blick auf die „unbekannten“ dynamischen Objekte zu werfen, die sich in der Dunkelheit zeigen. Das Licht, das man sieht, verwandelt sich in Erfahrungen, die unsere Wahrnehmung und unser Vorstellungsvermögen in Frage stellen, und dabei räumliche Architekturen andeuten, die man auch mit Hilfe der uns bereits bekannten nicht identifizieren kann. Indem diese Erfahrungen „epistemologische Brüche“ kreieren, regen sie unser Vorstellungsvermögen an und ermöglichen es uns, bestehende Wissensmodi infragezustellen und alternative Zukunftsentwürfe zu entwickeln.
Das Symposium, das sich mit der Erfahrung der visuellen Wahrnehmung des Unbekannten auseinandersetzt, bringt WissenschaftlerInnen, die sich mit dem Sehen beschäftigen, KünstlerInnen, PhilosophInnen, WissenschaftshistorikerInnen und KunsthistorikerInnen zusammen. Wie funktionieren unsere Wahrnehmung und Erfahrungen von Entitäten und Ereignissen, die wir nicht richtig kategorisieren können? Wie kommt das Unbekannte als eine subjektive Erfahrung zustande? Wie materialisiert sich die Phänomenologie des Unbekannten? Welche Beziehung haben das Unbekannte und das Bekannte, das Sichtbare und das Nachvollziehbare in visuellen Wahrnehmungserfahrungen? Was bedeutet die Erfahrung des Unbekannten für unser Leben und was ist dessen gesellschaftliche Funktion?
Die bildende Künstlerin Ivana Franke lebt in Berlin. Ihre Arbeiten, zumeist Lichtinstallationen, untersuchen die Verbindungen von Wahrnehmung, Kognition und Umgebung, insbesondere die Grenzen der Wahrnehmung. Mit ihrer Einzelausstellung Latency vertrat sie Kroation auf der 52. Biennale von Venedig (2007). Weitere wichtige Ausstellungen waren Disorientation Station (11. Shanghai Biennale, 2016/2017) und Seeing with Eyes Closed (Peggy Guggenheim, Venedig, 2011, Deutsche Guggenheim, Berlin, 2012). Ihre Arbeiten waren unter anderem auf der Manifesta 7 sowie im Museum of Contemporary Art Zagreb und MoMA P.S.1 zu sehen.
Retreat into Darkness. Towards a Phenomenology of the Unknown
27.04. bis 16.07.2017
Schering Stiftung
Unter den Linden 32–34
10117 Berlin