Kunstleben Berlin Kolumne von Jeannette Hagen. Wieder ein geheimer Ort, wieder ein exklusiver Kreis. Das Konzept: Angelehnt an die legendären Ausstellungsreihen des Berliner Undergrounds in den Jahren 2001-2010 erfahren die Besucher*innen den Ausstellungsort erst 48 Stunden vor ihrem Timeslot. Rein kommt, wer eine Undergroundcard besitzt oder von Card-Besitzer*innen eingeladen wurde. Die Orte, an denen das Event stattfindet, sind normalerweise nicht zugänglich. Nur in der Ausstellungzeit verwandeln sie sich in inspirierende Schauplätze für ein Kunstspektakel der besonderen Art.
So auch bei Himmel unter Berlin Vol.2. Über 100 Jahre waren die Werkshallen der ehemaligen Turbinenfabrik geschlossen. Nun gibt die Ausstellung den Blick auf ein Labyrinth von Gängen und Hallen frei, in denen einst Dampfmaschinen präsentiert wurden. Himmel unter Berlin schickt uns zumindest räumlich auf eine Zeitreise zum Beginn der industriellen Revolution; und damit in eine Epoche, in der der Grundstein für das, was wir heute Fortschritt nennen, gelegt wurde und für dessen Folgen wir gleichzeitig einen hohen Preis zahlen: Umweltzerstörung, Ausbeutung, Kriege und Armut sind die Kehrseite dieser Entwicklung. Dadurch, dass einige der Künstler*innen genau darauf Bezug nehmen, entsteht eine Analogie von Ort und Konzept, die absolut gelungen ist.
Ein Beispiel dafür ist die Klanginstallation „Grubenvögel“ von Bony Stoev, die man sowohl beim Rein- als auch beim Rausgehen passiert. Selten ist mir eine Installation begegnet, von der ich sagen würde: Hier steckt wirklich alles drin, was Kunst kann. Die Installation basiert auf den Realtimedaten der Social-Media-Accounts der Kardashiens, die in Zwitschern von Kanarienvögeln übersetzt werden. Kanarienvögel wurden früher als sogenannte Grubenvögel eingesetzt. Durch ihr kleineres Lungenvolumen starben sie frühzeitiger, wenn sich der Stickstoffgehalt in den Grubentunneln erhöhte und dienten damit als Warnsignal. In dem blau beleuchteten Gang zwitschern sie fast ununterbrochen. Das ist angesichts des realen Hintergrunds nicht nur grotesk, sondern gleichzeitig auch schön – eine Ambivalenz, die schwer auszuhalten ist. Und natürlich bleibt die Frage, wen oder wovor die Vögel heute warnen.
Der Weg zu den anderen Kunstwerken führt durch einen Kleiderschrank. Das hat etwas Konspiratives. Es ist nahezu unmöglich, sich der geheimnisvollen Dynamik und der so erzeugten Spannung zu entziehen. Selbst wenn man es von Volume 1 schon kennt – dieses erste Eintauchen beflügelt auf eine mystische Art und erzeugt ein Feeling, nach dem sich andere Ausstellungsmacher*innen wahrscheinlich immer sehnen: absolut konzentrierte Aufmerksamkeit. Dieser hohe Grad der Wachheit bleibt bis zum Ende und darüber hinaus erhalten. Zum einen, weil man aufpassen muss, sich im Labyrinth nicht zu verlaufen oder zu stolpern, zum anderen, weil die Intensität des Gezeigten keine Ablenkung erlaubt. Erst in der Roten Bar, die Eingang und Ausgang gleichermaßen symbolisiert, entsteht der Raum, das Erlebte und die Gefühle sacken zu lassen. Gelangt man von dort wieder an Licht, schleicht sich bei einigen sicher erneut der Eindruck ein, in etwas ein- oder abzutauchen, das sich auf mysteriöse Weise verändert hat. Die eigentliche Dunkelheit scheint plötzlich draußen in der Realität zu stecken, ganz egal, wie hell die Sonne scheint.
Himmel unter Berlin schärft den Blick. Dieses Erlebnis würde ich persönlich einem breiteren Publikum wünschen. Die Installationen in Kombination mit dem Ort und der Dunkelheit tauchen die Absurditäten menschlichen Handelns, den rasanten Wandel innerhalb eines Jahrhunderts und alle damit verbundenen gesellschaftlichen Problemzonen in grelles, teils farbiges Licht. Natürlich verfolgen nicht alle Kunstwerke oder Installationen den Anspruch, die toxische Seite unseres Fortschritts oder Daseins zu beleuchten. Das ist auch gut, so wirkt die eh schon sinnesgewaltige Ausstellung nicht überfrachtet.
Ein Dilemma, das allerdings vielen modernen Ausstellungen innewohnt, ist die Beschriftung und damit die Erklärung der Kunstwerke. Nicht jede Botschaft lässt sich aus der Kunst selbst herauslesen, manchmal nimmt aber die Erklärung der eigenen Fantasie den Raum. Ein anderes Mal hilft sie hingegen wieder, das Werk in seiner Gesamtheit zu erfahren und zu erfassen.
Unabhängig davon ist das Konzept von Himmel unter Berlin ein Erfolgsgarant. Für Besucher*innen, die Kunst und Originalität einfach nur konsumieren wollen, bietet es großartige Bilder und Entertainment. Für die, die gern tiefer eintauchen und Kunst zur Reflexion nutzen, ergeben sich viele Gelegenheiten, innezuhalten und nachzuspüren, welche Wirkung die Farben, Klänge und Bewegungen erzeugen. Die Exklusivität tut ihr Übriges, sodass Himmel unter Berlin unterm Strich für alle ein einzigartiges, absolut sehenswertes und nachklingendes Erlebnis bietet.
Artists
Lumus Instruments, Boris Acket, kling klang klong, So Kanno, Bianca Patricia Isensee, Sven Sauer, Stefan Reiss & Karsten Schuhl, Matthias Rodach, Nils Völker, Alvaro Soler-Arpa, Bony Stoev, Ralf Schmerberg, Elsemarijn Bruys
Himmel unter Berlin ist noch bis zum 11. Juni geöffnet. Nähere Informationen erhältst Du unter www.himmelunterberlin.com