Tender Points – Eine Gruppenausstellung darüber, wie zeitgenössische Machtausübung sich in den menschlichen Körper einschreibt. Unsere Gesellschaftsordnung behandelt die Bevölkerung als eine Quelle erneuerbarer Energie, etwa so wie Wind- oder Sonnenkraft. „Nudging “#subtiles Schubsen in Richtung einer gewünschten Verhaltensänderung zur Manipulation scheinbar „freier“ Entscheidungen ersetzt Befehle. „Guidelines“ ersetzen Regelwerke, deren Funktion dieselbe bleibt, bloß in verschleierter Form, schwerer zu benennen und offenzulegen.
Private und öffentliche Institutionen und Konzerne behandeln den individuellen Körper als Zielscheibe von Verordnungen, die in lebensnotwendige biologische Prozesse des Individuums eingreifen. Hier findet eine Umkehrung des monarchischen „Leben lassen, sterben machen“ zu „Leben machen, sterben lassen“ statt, wie es Foucault mehr als 40 Jahre vor der Corona-Pandemie formulierte. Wir sind – in den Worten des John Reed Fitness Club – Designed to Perform. Die Ausstellung widmet sich auf assoziative Weise Phänomenen dieser Einschreibung von Macht in menschliche Körper. Die Künstler:innen betreiben künstlerische Forschung in so disparaten Feldern wie Medizin, Pathologie, Gesten des Protests, körperfeindliche Gestaltung öffentlicher Räume und dem Einsatz von Polizeigewalt.
Albert García-Alzórriz’ Videoarbeit “Das Schweigen der Organe” beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen dem menschlichen Körper und der neuesten Krankenhaustechnologie, das sich auf die Grenzbereich konzentriert, in dem das Reale und das Dargestellte verschmelzen. In einem hypnotischen Tempo dokumentiert sein Film eine Operation mit Hilfe des daVinci-Roboters und eine Trainingseinheit mit einer automatisierten Nachbildung des menschlichen Körpers.
Timo Herbst untersucht gemeinsam mit Marcus Nebe Gesten des Widerstands. In seiner interdisziplinären Praxis, die sich in der Ausstellung anhand einer 10 Meter Zeichnung, Animationen und 3D-Drucken zeigt, widmet er sich dem körperlichen Ausdruck von Dissens und Sehnsucht nach Demokratie im deutschsprachigen Raum der Gegenwart bis zurück ins 15. Jahrhundert.
Julia Lübbecke unterwandert in ihrer Video-Lecture Performance „Slight Discomfort 2“ normative Körperpolitiken. Sie wirft die Frage nach den #Bodies to come” der Philosophin Peggy Phelan auf und den Räumen, in welchen sie sich entfalten können. Ihr Interesse liegt auf der Beziehung von Körper, Institution und Affekt.
Viktor Petrovs Arbeit „Gazing at the Glazing“ ist aus 54 taktischen Einsatz-Schildern der chinesischen Polizei zusammengebaut. Viktor Petrov reflektiert über den Begriff der Transparenz, der mit der architektonischen Repräsentation demokratischer Institutionen eng verbunden ist.
Jakub Šimčiks Video-Arbeiten bearbeiten wiederum medizinische Bilder als dokumentarisches Medium, das Momentaufnahmen einer vergangenen Lebensrealität liefert. Dafür setzt er sich mit der Wachsmoulage auseinander, einer Technik für die Abbildung krankhafter Körperteile, die zwischen 1870 – 1950 weit verbreitet war.
Margarita Wenzel komponierte datenbasierte Musik auf Schall-Platte in Anlehnung an einen inzwischen abgerissenen Plattenbau in Halle (Saale). Für die Künstlerin ist die Geschichte des Gebäudes eng mit der Entwicklung der Satellitenstädte in Ostdeutschland und dem nicht bewältigten Strukturbruch der Nachwendezeit verbunden.
Die Ausstellung bietet so viel Raum über die neuralgischen Punkte unser Gesellschaft nachzudenken. „Tender Points#, der Titel der Ausstellung , bezieht sich dabei auf Schwachstellen des Körpers, die bei der Diagnostizierung einer Schmerzstörung abgetastet werden.
Text von Timo Herbst, Johanna Maxl und Jakub Šimčik
Frontviews ist eine Gruppe von internationalen Künstlern und Theoretikern in Berlin. Auf der Grundlage flexibler Kooperationen entwickelt Frontviews Konzepte für zeitgenössische Kunst in Europa. Die Initiative wurde 2012 gegründet und ist als gemeinnütziger Verein für Kunst und Kultur in Berlin eingetragen. Seit 2019 betreibt Frontviews HAUNT als Zentrum für zeitgenössische Kunst und Kultur in der Kluckstraße 23 in Berlin Tiergarten. HAUNT ist ein Ort für Kunstausstellungen, Workshops, Vorträge, Konzerte und andere kreative Aktivitäten.
Beitragsbild: Positionings, 2023, 3D-Drucke, Resin, verschiedenen Formate courtesy of the artist, photo credits: Timo Herbst