Wo schon im Mittelalter das Geschäft mit der „Schönheit“ florierte, bietet Schöneberg heute eine Vielzahl spannender Kunstorte: Wir flanieren durch Sammlungen wie der Daimler Collection, Sammlung Bergmeier Oehmen Kunstsaele, besuchen Schöneberger Galerien, Museen und entdecken andere inspirierende Orte…
[Dezember-Rundgang] Jüngst habe ich eine Einladung zum Atelierbesuch bekommen – nach Steinreich! Wunderbar, wer möchte nicht dort wohnen?… Da wir jedoch nicht im Fläming, sondern nur innerhalb Berlins flanieren, entdecken wir heute Kunstorte in einem Bezirk mit nicht minder wohltuendem Namen: Schöneberg! Als im Mittelalter (abgabenzahlende) Siedlerfamilien ins Straßendorf nahe Cölln gelockt werden sollten, kreierten die Lokatoren Wunsch-Ortsnamen in sämtlichen Variationen mit Schön-, Licht-, Grün-, Rosen-, Sommer- und Reichen-. Die Marketingstrategie zog.
Einen Berg gab und gibt es nicht rund um die Hauptstraße, allenfalls leichte Erhebungen (U-Bahnhof Kleistpark, Kaiser-Wilhelm-Platz).
Eine durchaus markante Erhebung ist zweifelsohne das Schöneberger Gasometer. Das Industriedenkmal überragt die nicht weniger historische „Rote Insel“: ein Verinselung durch Bahntrassen weiter gen Nordosten. Als die Gleise das Inseldreieck bildeten, war hier weder Mensch noch Haus (1870er). Im Zuge der enormen Siedlungs- und Entwicklungsgeschichte – wie vielerorts in Europa als Konsequenz des Industriezeitalters – wurden dann 1900 zügig zwei Wohngebiete erschlossen, das noble Bayerische Viertel im Süd-Westen und das Arbeiterviertel im Osten, das Sedanviertel. „Rot“ wurde die Insel, der Legende nach, genannt, nachdem der Getränkehändler Bäcker bei der Rückkehr von Kaiser Wilhelm I. – trotz Sozialistenverbots – zur Begrüßung die rote Fahne aus dem Fenster hängte, statt der Schwarz-Weiß-Roten (Herr Bäcker wurde des Landes verwiesen).
Ganz in der Nähe, in der Crellestraße, finden wir heute das kleine „Museum der Unerhörten Dinge“. Wer in der dunklen Jahreszeit eine Portion Humor gepaart mit Fantasie-zum-um-die-Ecke-Denken braucht, ist hier goldrichtig. Uns zieht es weiter Richtung Norden – zu Künstler/innen, die gerne eine zweite Lesart parat haben und in der Katharina Maria Raab Galerie zu finden sind. In diesen Ausstellungen finden Sie immer erfrischend-tiefe künstlerische Positionen. Vor Kurzem wurde hier David Krippendorff gezeigt, der mit seinen Videoarbeiten weltweit in Ausstellungen und Sammlungen kuratiert wird.
Unbedingt seine Aufmerksamkeit schenken sollte man der Sammlung Daimler Contemporary in der nördlich gelegenen Alten Potsdamer Straße (Haus Huth). Bis 2. Februar 2020 präsentiert die „Sound on the 4th Floor“-Ausstellung Videos, Audio- und Soundarbeiten, Soundskulpturen, Bilder und Grafiken mit rund 50 Werken der Daimler Kunstsammlung (klassische Moderne bis Gegenwartskunst). Integriert wurde auch das Wandobjekt „Gegen den Lauf“ (2014) von Alicja Kwade: Rückt der Sekundenzeiger der Uhr eine Sekunde vor, dreht sich das gesamte Ziffernblatt gegen den Uhrzeigersinn zurück. Dazu wird das hörbar getaktete Ticken der Maschine zur Zerreißprobe, denn einerseits rasen die Sekunden vorweg, jedoch mit dem Sog in die Vergangenheit, und andererseits können die Betrachter trotzdem die reale Zeit ablesen, an den Stunden- und Minutenzeigern. In der Gegenwart löst sich also auf faszinierende Weise die Absurdität dieses Chronometers auf.
Ganz nah von hier, am Schöneberger Ufer 61, zeigt Sabine Schmidt, Galeristin der PSM Gallery, noch bis 11. Januar sehr sehenswerte Arbeiten von Almut Linde: „Bodies“.
Wir steuern weiter südlich die Sammlung „Kunstsaele“ an: In der Bülowstraße 90 werden vom Trio der Sammlerin Geraldine Michalke, ehemals Bergmeier, dem Galeristen Alexander Hahn und dem Künstler Michael Müller wechselnde Ausstellungen, Performances und Lesungen realisiert. Als der Zusammenschluss 2010 begründet wurde, war auch Sammler Stephan Oehmen dabei. Die kuratierten Präsentationen sind absolut zu empfehlen.
Unweit des Nollendorfplatzes initiierte Strategieberater und Sammler Christian Kaspar Schwarm (Independent Collectors) eine Bibliothek, die er als kreativen Schmelztiegel versteht: Im Mittelpunkt stehen über 50000 Künstler- und Non-Fiction-Bücher, die fast alle im 21. Jahrhundert publiziert wurden – wechselnd ergänzt um einzelne Werke aus Schwarms Sammlung konzeptioneller und politischer Kunst (Besichtigung nur mit Anmeldung per E-Mail).
Streetart-Fans bekommen, zumal im Winter, die Gelegenheit, eine Collection dieses Genre im „Urban Nation Museum“ in der Bülowstraße zu begehen, für das Markus Terboven, Sammler, Vorstand der Gewobag und im Kuratorium Stiftung Berliner Leben verantwortlich zeichnet.
Wir halten für eine Stippvisite in der Urania, seit 1888 in der Tradition, wissenschaftliche Themen aller Couleur in verständlichen Sessions zu vermitteln. Impulsgeber hierfür war Alexander von Humboldt und seit Ulrich Weigand Direktor des Hauses ist, gibt es neben einem vielseitigen Programm sogar riesige Ausstellungsprojekte wie „Michael Wolf – Life in Cities“.
Als nächstes besuchen wir in der Kalckreuthstraße die mianki® Gallery. Inhaber Andreas Herrmann fokussiert bei der Künstler/innen-Auswahl stark auf die Materialität der Werke – von besonderen Zeichentechniken, über Beton-Objekte, Textilkunst oder Duft-Kunstwerke finden wir stringent ausgewählte Malereien, Arbeiten auf Papier und skulptural Dreidimensionales. Zurzeit werden neue Plastiken von Tina Heuter gezeigt, die sich in der Einzelausstellung „too happy…“ mit dem menschlichen Phänomen des permanenten Strebens nach Glücklichsein auseinandersetzt. Ihre Arbeiten erscheinen zunächst grobporig modelliert und sind jedoch zugleich so fein, dass sie Aufmerksamkeit einfordern, uns ins Hier und Jetzt holen – und mir scheint, dies vermag eine mögliche, lesbare Antwort der Künstlerin zu sein, Augenblick verweile, denn du bist lebenswert…
Solcherart Momente gibt es in der mianki® Gallery mit jeder Ausstellung. Dazu kommen fantastische Kooperationen, wie es die Großinstallation von Jakob Kupfer im Humboldt Carré war. Und am 11. Dezember macht hier das Art Thinking℠ Institute Station, wenn Gründer Wolfram Roßner wieder zum interdisziplinären Breakfast mit Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft und der Kunst lädt (Online-Anmeldung erforderlich). Die Art Thinking℠ Events fanden zuvor bereits in der DAM, der Lucky und der Sexauer Gallery statt sowie in der PSM Gallery.
Bevor wir uns beim „Weinmichel“ unten am Bayerischen Platz stärken werden, entlocken wir dem großartigen Rahmenbauer Lars Gereke in der Eisenacher Straße noch einige Inspirationen.
Denn es ist immer eine Frage des richtigen Rahmens!
Pingback: Daimler Art Collection Ausstellung ›31: Women‹ - Kunstleben Berlin - das Kunstmagazin
Pingback: Salon No 3 - Galerie Christine Knauber - Kunstleben Berlin - das Kunstmagazin
Pingback: ‚Tod‘ in der Galerie Verein Berliner Künstler - Kunstleben Berlin - das Kunstmagazin
Pingback: Christopher Winter "Norwegian Wood" bei Dirk Lehr - Kunstleben Berlin - das Kunstmagazin
Pingback: KUNSTSAELE Berlin: Drawing Wow 2 - Kunstleben Berlin - das Kunstmagazin
Pingback: Galerie Aurel Scheibler eröffnet heute Tamara K.E. "Ink under the Skin" - Kunstleben Berlin - das Kunstmagazin