Betritt man den Raum der Ausstellung Grids and flowers von Verena Issel, steht man in einem Garten und Käfig zugleich. Auf den Galeriewänden ein graues gemaltes Raster aus horizontalen und vertikalen Linien, das aussieht wie ein Gitter. Gleichzeitig im Raum Rosenbögen aus dunkelgrünem Metall und kleinen, aus Teilen dieser Bögen geformten, Zäunen. An den Wänden, direkt auf das Raster gehängt, Bilder voller Blumen und Pflanzen.
Zunächst fallen einem dutzende, kleinformatige bunte Bilder ins Auge. Tritt man näher, erkennt man, dass Gebrauchsgegenstände auf diese geklebt sind: Pfeifenreiniger, Schaumstoffförmchen, Wischmopps, Würste aus Styropor-Silikonmischung, grüne Bento-Trenner vom Sushi-Lieferdienst, pinke Ohrenstöpsel. Alles, was Menschen so produzieren. Auf den Bildern leuchten mit Acrylfarben gemalte Blumen, Früchte, Knospen, Samen und ganze Landschaften – Mikrokosmos und Makrokosmos – aber auch Wassergefäße, zwei Buchstaben – ein X, ein Y – rote Frauenschuhe mit hohen Absätzen, ein Hammer, ein Holzstuhl.
All das beglückt in seiner Frische und Farbigkeit. Aber was bedeutet es? Verena Issel arbeitet präzise, da ist nichts Zufall.
Die kleinen Bilder bilden Gruppen und beziehen sich aufeinander. Manche Motive haben eine ähnliche Struktur, unterscheiden sich aber im Grad der Abstraktion. In Ihrer Gesamtheit zeigen sie ein wildes, fragmentiertes Wuchern. Sie haben etwas Geflecht- und Rhizomartiges. Verweise auf Vererbung und Verwandtschaft finden sich, ebenso auf Geschlechtertypisierungen und Sexualität. Die Bilder zeigen ein natürliches Wachsen und Gedeihen, aber auch erste vereinzelte Hinweise auf Menschengemachtes. Zum Beispiel Wassergefäße. Wasser steht dabei aber noch für den engen Zusammenhang mit den Pflanzen. Hammer und Stuhl deuten bereits auf eine Entfremdung von der Natur hin – auf deren Nutzung durch den Menschen, auf Verarbeitung von Natürlichem zu Funktionellem, allein dem Menschen Dienlichen. Und natürlich sind da all die kleinen bunten Plastikgegenstände auf den Bildern …
Die zweite Bildgruppe besteht aus großen Formaten farbig lackierter Holzplatten, auf denen jeweils ein weißes Netz hängt – ausgeschnittene Teppich-Antirutschmatten. In und auf diese Netze „zeichnete“ Verena Issel, indem sie Nylon-Schnüre, Gardinenbordüren oder Textilstreifen eingefädelt oder aufgenäht hat. So entstanden minimalistische, gleichzeitig detailreiche, textile „Zeichnungen“ von großer Transparenz, Luftigkeit und Ausdruckskraft.
Auf diesen großen Bildern geht es geordneter zu. Vergleicht man die kleinen Acrylbilder mit den großen Textilzeichnungen, fällt als erstes der Verlust von Wildnis auf. Während es auf den kleinen Bildern wuchert, scheint die Natur bei den Netzbildern in einem Raster gefangen. Die Wildnis ist verschwunden, die Flora mehr gemacht als gewachsen; letztlich eine Abbildung der Wirklichkeit: Wasserstraße statt Fluß, Forst statt Wald, Felder statt Wiesen. Stahl und Glas statt Blattwerk und Blüten. Eine gerasterte Welt, vermessen, begradigt und kartiert von Google Maps.
Verena Issel untersucht in Grids and flowers auf künstlerischer Ebene das Verhältnis von organisch-einfühlender Abbildung auf der einen Seite, und linear-kristalliner Abstraktion auf der anderen, beides Begrifflichkeiten des Kunsthistorikers Wilhelm Worringer. Die Abstraktion auf dem Gebiet der Kunst spiegelt sich dabei auch in dem abstrahierenden Verhältnis des Menschen zur Natur, das sich jeder Einfühlung widersetzt. Doch dazu später.
Folgen wir zunächst den Gedankengängen Worringers. Dieser unterscheidet zwischen glücklich-pantheistischer Abbildung von Einzeldingen im Sinne eines ruhigen – fast möchte man sagen entspannten – Naturalismus, getragen von einer Einfühlung in alles Organische, und auf der anderen Seite dem Versuch einer Selbst-Beruhigung durch Abstraktion, der die Einzeldinge aus der Willkür des Organischen befreien will, getragen von einem Angstgefühl angesichts der Willkür und Unordnung der Welt. Natürliches Gottvertrauen versus angstvolle Planung. Organisches Leben im Raum versus Linien im Raster: Grids and flowers.
Natürlich unterwirft sich Issel nicht wortwörtlich der romantischen, von Schopenhauer inspirierten, Abstraktionstheorie Worringers. Issel nutzt aber dessen Gedankengebäude spielerisch, um es bildhaft auf eine Analyse der Verhältnisse des Menschen zur Natur anzuwenden.
Abstrahieren leitet sich vom lateinischen abstrahere ab, was so viel bedeutet wie wegziehen, fortschleppen, gewaltsam trennen. Und genau dies macht der Mensch in und mit der Natur. Er reißt die organischen Zusammenhänge auseinander, trennt, schleppt fort. Aus zersägtem Holz hämmert er: einen Stuhl. Dem Büffel zieht er das Fell ab, gerbt das Leder und macht: einen Schuh. Den Planeten überzog er schon in der Antike mit Längen- und Breitengraden. Die Welt unterm Raster.
So wie der Mensch seine Umwelt trennte, ordnete und fortschleppte, abstrahierte er sich selbst von dieser. Dabei riss er auch die natürlich gewachsenen Zusammenhänge innerhalb der Natur auseinander und setzte eine gefährliche Entwicklung in Gang. Aus Gleichgewicht wurde Wandel. Wandel klänge recht harmlos, wäre es nicht das Klima. Auch seine Mitspezies trennte der Mensch voneinander, schleppt sie fort, ordnet sie: Hennen im Käfig, Schweine im Kastenstand. Der Mensch als der große Abstraktionskünstler ohne Einfühlung. Zwar hält er sich für die Krone der Schöpfung, aber eigentlich gleicht er einem Wurm. Daher möglicherweise die Würmer auf zweien der großen Netz-Bilder. Erst langsam dämmert den Menschen, was sie angerichtet haben. Nicht nur das Klima, auch die Vielfalt des Lebens veränderten sie. So bemerkten sie z. B. viel zu spät, dass Pflanzen nicht befruchtet werden, wenn alle Insekten vergiftet sind. Es gäbe tausende solcher Beispiele.
Zurück zur Kunst: In dem Gitter an den Wänden und den Netzen auf den Bildern könnte man die lineare Abstraktion im Sinne Worringers erblicken, ebenso wie ein Abbild der Welt des Anthropozäns. Und dann gibt es noch eine dritte Bildgruppe: Hinterglasmalereien. Während die Acrylbilder noch ein wenig vom Wuchern der Natur zeigen, den menschlichen Planungseingriff nur andeuten, zeigen die Netzbilder eine bereits kartierte und im Käfig gehaltene Pflanzen- und Tierwelt. Die dritte Gruppe schließlich zeigt Artefakte wie griechische Tempel oder eingelegtes Gemüse. Die Welt geformt und konserviert für eine vermeintliche Ewigkeit. Die totale Abstraktion. Nach Worringer ist diese von Angst getrieben. Ein fast schon existentialistischer Gedanke. Wer Angst hat vor einem endlosen, leeren Himmel, baut vorsorglich Tempel oder konserviert Lebensmittel. Man denke an Heidegger. Dasein ist Sorge.
Der Witz und die Volte bei allem ist, dass kaum eine Kunst sorgloser erscheint als die von Verena Issel. Und irgendwie spiegelt auch dies die Widersprüche der Welt: „Unsere Welt“ steht am Abgrund, aber wir machen lustig weiter. Gefangen in einem Käfig – der Verblendung, der Angst, der Ignoranz. Im ehemaligen Garten Eden, einem hortus conclusus, der kein rosenbewachsener Schutzraum mehr ist, sondern ein Käfig: Grids and flowers.
Verena Issel – Grids and flowers
25.02.2023 – 6.04.2023
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