Mit „Dirt and Myth“ zeigt die daadgalerie die erste Einzelausstellung der Künstlerin Patricia Belli. Geboren 1964 in Managua, Nicaragua, lebte und arbeitete Belli 2021/2022 als Fellow des Berliner Künstlerprogramms in Berlin.
Patricia Belli lässt sich nicht auf eine Disziplin festlegen, sie arbeitet mit Fasern, Alltagsgegenständen und handgefertigten Materialien, mit denen sie die Verflechtung zwischen Körpern und Systemen ebenso erforscht wie das prekäre Gleichgewicht, in dem sich diese angesichts von Strukturen der Gewalt befinden. Über Themen wie Gender, Sexualität und Veränderungsprozesse bringen ihre Arbeiten eine strukturelle Sprache zum Vorschein, die – bestimmt durch eine Vielzahl an Sehnsüchten – Gestalt annimmt. Ausgehend vom Körper und von gelebten Erfahrungen aktiviert Patricia Belli physische Empfindungen als Wissensarchiv und Ort der Artikulation. Durch Nähen und andere handwerkliche Tätigkeiten verleiht sie all jenem, was fragil, weiblich und anderweitig gefährdet ist, Textur. Marginalisierten Körpern, zwischen lokalen und globalen Kontexten, gibt sie eine Form, und entwickelt damit eine Gegenpoetik zu heteropatriarchalen Systemen.
In der daadgalerie werden um die 25 Werke der Künstlerin aus unterschiedlichen Schaffensperioden gezeigt, die seit Mitte der 1990-er Jahre bis heute entstanden sind. Zu sehen sind skulpturale Objekte, Video-Arbeiten, sowie eine neue Version der Installation „El Circo“ aus dem Jahr 2001, die einen wichtigen Ankerpunkt in Bellis Gesamtwerk darstellt. In der für die Ausstellung „Dirt and Myth“ neu entstandene Siebdruck-Serie „Tierra Quemada“ (2024) und der Video-Arbeit „Recuerdos“ (2022) rückt Belli aktuelle gesellschaftliche Krisen, wie den Klimawandel und Krieg in den Vordergrund.
Ihr Studium absolvierte Belli in den Vereinigten Staaten zur Zeit der Contra-Kriege (1981–90) in Nicaragua, die von den USA unterstützt wurden. Nachdem sie an der Loyola University einen BFA in bildender Kunst erworben hatte, kehrte sie 1987 nach Managua zurück. 1990 wurde sie Teil eines KünstlerInnenkollektivs namens ArteFacto. Die nicht besonders langlebige, aber wegweisende Gruppierung verfolgte einen interdisziplinären Ansatz, verbunden mit Performance als Methode und einer experimentellen Ästhetik, die den Status quo bewusst herausforderte. Mit Unterstützung eines Fullbright-Stipendiums machte Patricia Belli 2001 ihren MFA-Abschluss am San Francisco Art Institute. Im selben Jahr kehrte sie nach Nicaragua zurück, wo sie EspIRA (dt: Raum für künstlerische Forschung und Reflexion) gründete, ein experimentelles pädagogisches Projekt, das sich auf der Basis von kollektivem Dialog und gemeinschaftlichem Lernen kontinuierlich weiterentwickeln sollte.
Verankert in einem Ethos der Selbsterkundung, verbunden mit der Erforschung spezifischer Materialien, untersuchen Bellis frühe Arbeiten weiblich konnotierte Körperlichkeit(en) anhand genderspezifischer Zuschreibungen von Alltagsgegenständen. In Werken wie „Herida“ (1995) und „Novia“ (1995) hinterfragt sie Konstruktionen von Weiblichkeit anhand der sensuellen Beschaffenheit von Frauenkleidung. Die von der Künstlerin verwendeten, aus den Vereinigten Staaten importierten Second-Hand-Kleidungsstücke tragen affektive Rückstände, in denen die Körper, die sie einst trugen, und deren Geschichte nachleben. In „Triángulo“ (2000) setzt sie ihre somatischen Untersuchungen fort, indem sie sich häuslichen Objekten zuwendet, um anthropomorphe Strukturen zu schaffen, in denen sich die systemischen Voraussetzungen von Zwängen offenbaren. Zur selben Zeit entstand Bellis großformatige Installation „El Circo“ (2001), die – in den Worten der Künstlerin – das „Risiko des Zirkusspektakels und die Melancholie des Zirkuslebens“ thematisiert, die der Machismo hervorruft.
In ihren neueren Arbeiten greift Belli die Themen Fragilität und Gewalt in teils partizipativen Installationen und Objekten auf. In Arbeiten wie „Pesadilla“ (2019) zeigen sich Zyklen der Gewalt, die das prekäre Verhältnis von Körpern und Objekten thematisieren. Wenn Körper zu Objekten werden, die von größeren Unterdrückungssystemen misshandelt werden, verlieren sie den Boden unter den Füßen. Neben diesen Arbeiten stellt die Künstlerin Stoffe in den Vordergrund, mit deren Hilfe sie untersucht, wie sich Strukturen der Gewalt und automatisierte Systeme auf die Mechanismen des Körpers und der Natur im weiteren Sinne übertragen. So auch in „Cielo de Leche“ (2019), wo eine feine weiße Decke mit euterähnlichen Ausstülpungen über den Betrachtenden hängt – wie der Himmel eines Versprechens von Milch. Knapp außer Reichweite positioniert, ruft die Arbeit ein zartes und doch bedrohliches Gefühl hervor, das verdeutlicht, wie dünn der Schleier ist, der Erziehung und strukturelle Gewalt trennt.
Patricia Belli lebt und arbeitet in Managua, Nicaragua. Zu ihren Einzelausstellungen gehören: „Ser, sin serlo“ in der Villa Vassilief, Frankreich, wo sie ein Pernod Ricard Fellow war (2018); „Equilibrio y Colapso“ in TEOR/éTica, Costa Rica (2016), Fundación Ortiz Gurdián, Nicaragua (2017), ArteCentro Graciela Andrade de Paiz, Guatemala (2017); und „Frágiles“ in TEOR/éTica, Costa Rica (2015). Bellis Arbeiten wurden zudem in Gruppenausstellungen bei ARCO, Madrid (2021), der 10. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst (2018), der 38. EVA International, Irland (2018), der 58. Carnegie International, Chicago (2022) und bei Parallel Oaxaca (2024) gezeigt.
Patricia Belli – Dirt and Myth
12. September – 10. November 2024
daadgalerie