Huseyin Sami arbeitet mit den Material- und Anwendungsmöglichkeiten von Farbe. “Möglichkeiten” ist hier das entscheidende Wort. Er verwendet Acryl-Haushaltsfarbe, die von Natur aus aus Plastik ist. Samis Arbeit mit Farbe – die sich in Gemälden, Performances, Skulpturen und Installationen niederschlägt – befasst sich mit dem Begriff der Möglichkeit durch Plastizität. Da passt es, dass in seiner neuen Gemäldeserie zwei Farbhäute in kontrastierenden (charakteristisch pastellfarbenen) Farben übereinander angeordnet sind und Horizonte bilden – die ultimativen Symbole für Spekulation und Entdeckung. Diese Gemälde sind, im wörtlichen Sinne, plastische Horizonte. Im übertragenen Sinne sprechen sie von Samis Bestreben, die Grenzen seines gewählten Themas – der Malerei – mit bewusster Ungewissheit auszutesten, und zwar in einer Weise, dass die der Farbe innewohnende Verarbeitbarkeit im Mittelpunkt des Prozesses steht.
Harold Rosenberg hat die Entwicklung solcher Tendenzen in der Malerei wie folgt beschrieben:
“Zu einem bestimmten Zeitpunkt begann die Leinwand einem amerikanischen Maler nach dem anderen als eine Arena zu erscheinen, in der er handeln konnte […] Was auf die Leinwand kommen sollte, war kein Bild, sondern ein Ereignis.“
Wie die Action Painters, auf die sich Rosenberg bezieht, halten auch Samis Gemälde die Ereignisse ihrer Entstehung fest. Die Häute, die Sami herstellt und die einen ganzen Teil seines Oeuvres ausmachen, beginnen als Pfützen aus flüssiger Farbe, die vollständig getrocknet werden, bevor sie abgezogen und wie Stoffbahnen auf den Untergrund gelegt werden. In den Wellenbewegungen jeder Haut ist ein Code eingefangen, der bestimmte räumliche, zeitliche und mechanische Bedingungen impliziert. Keine zwei Häute sind gleich. So können wir jedes Gemälde als einen Ereignishorizont definieren. In der Physik ist der Ereignishorizont eine Grenze um ein schwarzes Loch, über die hinaus nichts entkommen kann, nicht einmal Licht. Theoretisch wird das, was einen Ereignishorizont überschreitet, entmaterialisiert und als Information im Inneren eines schwarzen Lochs gespeichert – eine Information, die an anderer Stelle im Universum identisch oder neu konfiguriert werden kann. In ähnlicher Weise tragen Samis Farbhäute Informationen über Zustandsveränderungen in sich – mit Absicht, aber ohne Vorbestimmung.
Die Konturen von Samis Bildern lassen sich als entstehende, unausgegorene Formen lesen. Mit anderen Worten: Sie sind Ausgangspunkte für eine ungewisse Zukunft. Ihr gegenwärtiger Zustand kann durch eben dieses Gefühl des Werdens definiert werden, dem, wie der Philosoph Franco Berardi beschreibt, Potenzialität eingeschrieben ist. In „Futurability: The Age of Impotence and the Horizon of Possibility“ (Das Zeitalter der Ohnmacht und der Horizont der Möglichkeit) stellt Berardi den “Horizont der Möglichkeit” vor – eine treffende Metapher für die Lektüre von Samis Gemälden -, der erscheint, “wenn die Gesellschaft in eine Phase der Krise eintritt oder sich dem Zusammenbruch nähert”. “Dieser Horizont”, so fährt er fort, “ist schwer abzugrenzen, und das Territorium, das an diesen Horizont grenzt, ist schwer zu beschreiben oder zu kartografieren.
Die Arbeit mit dem Unbekannten und nicht dagegen ist für Sami ein Weg, dessen sich ständig verändernde Unvorhersehbarkeit zu erahnen, wie fragmentarisch diese Wahrnehmung auch sein mag. Seine Praxis umarmt die Plastizität als eine Möglichkeit, mit ihrer Ontologie zu rechnen. Die Verwendung der Malerei als Mittel zur Modellierung der Wandlungsfähigkeit verleiht diesem Streben eine poetische Resonanz. Obwohl sie nur einen winzigen Bruchteil der vielen flüchtigen Ereignisse abbilden, die unsere Gegenwart ausmachen, ist dies genau der Punkt an Samis Gemälden, der uns daran erinnert, dass in allen Konfigurationen und Rekonfigurationen eine noch unbekannte Zukunft verborgen ist.
– James Gatt
Huseyin Sami *1979 in London, UK
lebt und arbeitet in Sydney, Australien
HUSEYIN SAMI
Plastic Horizons
30. Juni 2023 – 02. September 2023
Taubert Contemporary