Rolf Tietgens (1911-1984) gilt als einer der bedeutenden Fotografen der 1930er Jahre, der hierzulande jedoch bisher nur wenigen bekannt ist. Sein Werk geriet in Vergessenheit, nachdem er, als homosexueller Künstler in Deutschland von Verfolgung bedroht, Ende 1938 nach New York emigrierte. Da er nie nach Deutschland zurückkehrte, blieb sein Schaffen lange Zeit vergessen. Heute muss sein Buch Der Hafen, das 1939 im Zuge der 750 Jahrfeier des Hamburger Hafens im renommierten Heinrich Ellermann Verlag erschien, zu den besten Fotobüchern der 1930er Jahre gezählt werden. Es kann als der künstlerisch anspruchsvollste Entwurf zu diesem Thema in der deutschen Fotogeschichte angesehen werden.
Tietgens setzt souverän das Vokabular des „Neuen Sehens“ ein, um in einer persönlichen Sichtweise den Bildern eine symbolische Dimension zu verleihen. Der Hafen erscheint als facettenreicher, archaischer Ort, an dem der Mensch den Übergang von Wasser zu Land gestaltet hat. Der Schiffsverkehr und die mit ihm verbundenen technischen Vorgänge sind dabei nur ein Teil eines komplexen Organismus, zu dem die Sphären von Architektur und Arbeit ebenso gehören wie die von Handel und nächtlichem Vergnügen. In einem unveröffentlichten Werbetext hat Rolf Tietgens sein ästhetisches Konzept beschrieben: „Augenblicke aus der unbeständigen Erscheinungswelt des Hafens, deren Grundbild jedoch immer gleichbleibt, versuchten wir festzuhalten und mit anderen gebannten Augenblicken in Zusammenhang zu bringen. So ist ein Bilderbuch entstanden, durch das vielleicht vermittelt werden kann, was HAFEN bedeutet; abgesehen davon, dass versucht wurde, in ihm das Leben und die Einmaligkeit des Hafens von Hamburg zu veranschaulichen.“
Da sowohl Originalabzüge als auch die Negative von Tietgens Hafenbuch verschollen sind, wird die Bildabfolge gemäß des dem Buch zugrundeliegenden Konzepts gezeigt, und zwar in der authentischen Abfolge der fein komponierten Doppelseiten. Hinzu kommen Originalabzüge von der norddeutschen Küste und dem Elbestrand, wo das Formenspiel von Licht, Schatten, Himmel, Wasser und Sand fotografisch reizvolle Motive bot.
Erstmals werden in dieser Doppelausstellung auch die Einzelbilder vom Hamburger Hafen von Alfred Ehrhardt (1901-1984) präsentiert. Ehrhardts Fotografien aus den 1930er Jahren fallen sachlicher aus. Sie erfassen den Hafen weniger als metaphorischen Raum, sondern als dynamischen Schauplatz des Industriezeitalters, der eine spezifisch maritime Technik hervorgebracht hat. Ehrhardt erstellt gewissermaßen ein Inventar ihrer Elemente, registriert unterschiedliche Schiffstypen, Ladebrücken, Kräne ebenso wie Schiffsschrauben oder Ankerketten als charakteristische Details. Besonders eindrucksvolle Aufnahmen gelingen ihm dort, wo jahreszeitliche Kräfte der Natur sichtbar Einfluss auf das Hafen-Geschehen nehmen, so wenn sich Boote ihren Weg durch das Eis bahnen müssen. Man merkt diesen Bildern jene Vorliebe für Motive an, die Ehrhardts Rang als Naturfotograf begründet haben.
Die Poesie des Hafens und die ungeheure Vielfalt seiner stets wechselnden Bilder hat Fotografinnen und Fotografen schon immer angezogen. Über den dokumentarischen Wert ihrer Aufnahmen hinaus, wird im Werk beider Fotografen die überzeitliche Poesie der maritimen Welt erfahrbar. Thematische Überschneidungen und die gleichermaßen der Bildrhetorik der Avantgardefotografie verpflichteten Aufnahmen haben bereits die zeitgenössische Kritik dazu veranlasst, die Hamburger Fotografen Alfred Ehrhardt und Rolf Tietgens als ebenbürtige Kollegen zu beurteilen.