OPENING: FRIDAY, 15 DECEMBER, 6 – 10 PM
DURATION: 16.12.2023 – 07.01.2024
CLOSED BETWEEN 21.12.2023 – 04.01.2024
ORGANIZED BY SANDRA SCHLIPKOETER
Wenn wir „Ich sehe was, was du nicht siehst“ spielen, animieren wir uns gegenseitig, die Wahrnehmung auf Dinge zu richten, die wir sonst übersehen. Wir gehen allerdings davon aus, dass sich das, was die Augen aller Mitspieler entdecken sollen, in einer Außenwelt befindet, die alle gleichermaßen sehen können oder könnten, also nicht etwa in einem (mathematischen) Hilbertraum…
Aktuelle Theorien der Wahrnehmung „belehren“ uns allerdings, dass wir nicht einfach sehen, was sich vor unseren Augen befindet, sondern der Seheindruck von unserem kognitiven System mehr oder weniger „errechnet“ wird. Und wir sehen Dinge, obwohl wir wissen, dass sie nicht wirklich vorhanden sind. So nehmen wir genannte Moiré-Effekte wahr, bei denen die Überlagerungen paralleler Linien ein bisweilen wildes Flimmern erzeugen. Die physikalische Beschreibung, die wir bei Wikipedia finden, lautet so: „Moiré von frz. moiré „moiriert, marmoriert“) ist ein optischer Effekt, bei dem durch Überlagerung von regelmäßigen Rastern ein wiederum periodisches Raster entsteht, das spezielle Strukturen aufweist, die in keinem der Einzel-Muster vorhanden sind und bei Veränderung der Überlagerungsweise variieren.“ Dies ist eine physikalische Erklärung dafür, warum wir sehen, was wir sehen, aber beschreibt nicht, was wir sehen. Noch komplizierter ist es mit Interferenzen, die entstehen, wenn man digitale Bilder abfotografiert. Zwischen Auge und Außenwelt schiebt sich also die Linse der Kamera. Diesen Interferenzen folgt Sandra Schlipkoeter, in Malerei, Skulptur, Installation oder Scherenschnitten. Im Vordergrund stehen immer die optischen Wellenformen. Es ist nicht einfach, hier noch durchzublicken, weder im direkten noch im übertragenen Sinne. Das gilt auch für die fünf anderen Künstler*innen, die Sandra Schlipkoeter für diese Ausstellung eingeladen hat und die uns ein Spektrum unterschiedlicher komplexer Überlagerungen vorführen. Wenn wir etwa durch die gefalteten Lochbleche von Albert Weis blicken, sehen wir trotz der auf Maßverhältnissen Le Corbusiers beruhenden geometrischen Klarheit immer wieder andere Muster. Die Linien auf Caroline Kryzeckis Kugelschreiberzeichnungen verschwinden optisch hinter großen flimmernden Farbflächen. Fiene Scharp suggeriert uns, dass mehrere mit fein ausgeschnittete Formen versehende Papierbahnen hintereinander liegen, aber die Schatten auf der Wand führen uns in die Irre. Weniger auf die optische Täuschung als auf die aus jeder Perspektive immer neuen Konstellationen angelegt sind die sich quer durch den Raum ziehenden linearen Drahtobjekte von Birte Bosse. Bei Eva Berendes schließlich bestehen die „Überlagerungen“ eher darin, dass künstlerische Gattungen wie Malerei, Zeichnung, Relief und Skulptur sich einander so überlagern, dass das Unterfangen, diese hier noch zu identifizieren, sich gleichsam in einem gedanklichen Moiré-Muster verfangen würde. Die Auseinandersetzung mit der Komplexität und den Fallen der Wahrnehmung ist kein neues Thema der Kunst, aber eines, in dem sich immer wieder neue Facetten auftun, wie diese Ausstellung exemplarisch vorführt. Und vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um KI-Kunst wäre die Frage, wie eine KI die Phänomene identifizieren würde, die uns hier vorgeführt werden. Spielen wir „Ich sehe was, was du nicht siehst“ statt mit unseren Kindern doch auch mal mit einer Bilderkennungssoftware…
Ludwig Seyfarth
Berlin, Dezember 2023