Aufgrund meiner Begeisterung für die Wirkung der Kunst auf vielen Ebenen gerate ich in letzter Zeit schnell in den Verdacht, Kunst als Allheilmittel zu betrachten. Du hast Probleme? Genieße oder mache Kunst. Das Klima geht den Bach runter? Kunst kann helfen. Die Demokratie ist in Gefahr? Fragen wir doch mal Künstler*innen, was sie dazu sagen.
Schön wäre es, würden die einfachen Antworten auf hochkomplexe Zusammenhänge funktionieren. Wir Menschen sehnen uns nach Einfachheit und je undurchdringlicher und schneller der Fortschritt und die Welt um uns herum werden, desto stärker ist unser Drang nach Rückzug und nach Eindimensionalität. Gleichzeitig wachsen Angst, Unzufriedenheit und Frustration und die Neigung, jenen nachzulaufen, die simple Lösungen versprechen. Angst war allerdings noch nie ein guter Ratgeber. Sie mag hier und da berechtigt sein, erzeugt allerdings, wenn sie über das normale Maß hinausgeht, Stress und Stress macht auf Dauer krank.
Schon lange beschäftigen sich Wissenschaftler*innen auf der ganzen Welt mit der Frage, was wir dem entgegensetzen, wie wir damit klarkommen können. Zwei Londoner Epidemiologinnen, Daisy Fancourt und Urszula Tymoszuk, haben nun anhand einer Langzeitstudie mit 2148 Probanden im Alter zwischen 52 und 89 Jahren herausgefunden, dass der Genuss von Kunst und Kultur das Risiko, an einer depressiven Erkrankung zu leiden, fast um 50 Prozent senkt. Regelmäßige Besuche von Kunstausstellungen, Konzerten, Opern, Theateraufführungen oder Kinobesuche, sind also heilsam und das ganz unabhängig von der Persönlichkeit, der finanziellen Situation und dem gesundheitlichen Zustand. Mich hat das Ergebnis dieser Studie nicht überrascht, ist doch schon länger bekannt, dass das Betrachten von Kunst – ob nun als Film, Gemälde oder in anderer Form – das Belohnungszentrum im Gehirn aktiviert, was wiederum positive Gefühle freisetzt. Darüber hinaus versinken wir in einen Zustand der Tagträumerei, was ebenso unsere Erfahrungswelt nachhaltig positiv prägt. Ebenso wie die Tatsache, dass Kunst Denkanstöße gibt und uns grundsätzlich offener gegenüber Fremden sein lässt.
Aber nicht nur das Betrachten von Kunst tut gut. Selbst kreativ tätig zu sein, ist ebenso anregend wie heilsam, wie wir aus der Kunsttherapie wissen. Kreativ zu sein stärkt unser Gefühl von Teilhabe, zum Beispiel wenn wir gemeinsam mit anderen singen oder musizieren. Eine Tradition, die in den Familien oder Gemeinschaften leider weitestgehend ausgestorben ist. Auch in den Schulen wird der Kreativunterricht immer weiter zurückgedrängt, was nicht nur unglaublich schade ist, sondern Auswirkungen auf die Kinder, auf ihre Entwicklung und auf ihr Miteinander hat. Kunst öffnet Räume, nicht nur Denkräume, sondern auch Räume für etwas, das Sprache nicht mehr ausdrücken oder bewältigen kann. Tabuthemen können künstlerisch durchdrungen und damit vielleicht auch bewältigt werden.
All das fehlt, wenn die Möglichkeiten Kunst zu genießen oder selbst künstlerisch tätig zu sein, eingeschränkt sind oder werden. Wir verlieren dadurch nicht nur Erfahrungsräume, sondern auch ein Stück unserer Authentizität und Freiheit. In diesem Zusammenhang fällt mir immer der Film „Der Club der toten Dichter“ ein – die Kühnheit, der Trotz, die Kraft, die diese jungen Männer aus Worten von Shakespeare oder Whitman gezogen haben. Wie sie aufblühten, als starre Konzepte abgeworfen wurden und Freiheit im Denken gefordert war. Und wie das alles in sich zusammenbrach.
Heute erleben wir Ähnliches. Die Kunst führt wieder einen Kampf gegen starre Gesinnung, gegen Finanzhaushalte, gegen Ignoranz, aber auch gegen Vereinnahmung. Das nicht zuzulassen, sollte uns ein Anliegen sein.
Kunst in Berlin, immer bewegt mich