Wie sieht Freiheit aus? Vom 20. Februar bis 01. März 2020 finden die 70. Internationalen Filmfestspiele Berlin statt. Für die Berlinale Shorts selbst beginnt dieses Jahr ein neues Kapitel. Nachdem Maike Mia Höhne die Sektion zwölf Jahre leitete, übernimmt Anna Henckel-Donnersmarck nun die Position als Kuratorin und Sektionsleiterin und präsentiert ihr erstes Programm. Mit dabei – außer Konkurrenz – “Veitstanz/Feixtanz” von Gabriele Stötzer.
Vor 70 Jahren wurde die Berlinale gegründet, als „Schaufenster der freien Welt“. Wie sieht Freiheit heute aus? Wie nimmt man sich Freiheit – im doppelten Sinne des Wortes? In 24 Filmen aus 18 Ländern ziehen sich diese und weitere Fragen durch das Wettbewerbsprogramm der Berlinale Shorts 2020.
„Der Kurzfilm genießt eine besondere Freiheit“, so Henckel-Donnersmarck. „Er muss keiner Norm gerecht werden, keine Erwartungshaltung erfüllen, keine Verwertungsketten bedienen. Seine besondere Magie entfaltet sich jenseits der gängigen Sehgewohnheiten. Diese Magie möchten wir mit dem Publikum teilen.“
Die insgesamt 24 Filme der Berlinale Shorts bewegen sich fließend im weiten Spektrum der Themen und laden auf unterschiedlichste ästhetische Weise ein zu Diskussionen. Die Vielfalt von Un-/Freiheit im Kurzüberblick der Shorts:
1988 nahm Gabriele Stötzer sich die Freiheit und bat ihre Freund*innen im ostdeutschen Erfurt, sich an selbst gewählten Orten in Ekstase zu tanzen (Veitstanz/Feixtanz), aus dem Archiv geholt von Anna Henckel-Donnersmarck (läuft außer Konkurrenz). 22 Jahre später scheitern virtuelle Soldaten innerhalb eines Computerspiels daran, zu desertieren – die gesellschaftlichen Regeln des Kriegsspiels sind nicht zu unterlaufen (How to Disappear). Nach kleinen und großen Momenten der Verweigerung und Widerspenstigkeit (HaMa’azin, Filipiñana, Girl and Body, So We Live, Inflorescence) wird ebenso gesucht wie nach dem konkreten Freiheitsgefühl, das einem durch eine Gefängnisstrafe genommen wurde (Huntsville Station). Auch Tod und Verschwinden ziehen sich durch das Programm (Gumnaam Din, A l’entrée de la nuit). Eigenwillige Rituale der Trauer spenden Trost und stiften Gemeinschaft (T, Playback. Ensayo de una despedida, Écume) und sind darüber hinaus eine Auseinandersetzung mit der Gegenwart (Union County, Atkūrimas) und Vergangenheit (Cause of Death) unserer Gesellschaft. Und dann gibt es noch all die filmischen Welten, die jenseits des Realen liegen und ihm damit seine Schwere nehmen (Genius Loci, Celle qui porte la pluie). Oder die absurden Kosmen, die ihre ganz eigenen Regeln aufstellen und damit Freiheit für sich neu definieren (It Wasn’t the Right Mountain, Mohammad, Stump the Guesser, My Galactic Twin Galaction). Nicht zuletzt ermöglicht das Entwickeln eigener ästhetischer Regeln filmische Denkräume, die jenseits von Worten und Analysen zu finden sind (2008, Aletsch Negative, A Demonstration). Eine Freiheit, die eine Wonne sein kann.
Zu Gabriele Stötzer
Ihr Film “Veitstanz / Feixtanz” (DDR, 25’, 1988) läuft bei den Berlinale Shorts außer Konkurrenz.
Freiheit hat in ihren Augen viele Facetten und Tiefen.
Gabriele Stötzer (*1953, ehem. Kachold) ist eine der beeindruckendsten, unermüdlichsten Künstlerinnen unserer deutsch-deutschen Gegenwart. Sie gehörte zur experimentellen Super-8-Filmszene der 1980er-Jahre in der DDR und war Gründungsmitglied der Künstlerinnengruppe Exterra XX, 1984 in Erfurt. Trotz Repression durch das Regime, Willkür, Zuchthaus und Verrat wollte sie nicht ausreisen.
Sie waren jung und schön, geläutert und gefährdet, wütend und mutig, sie hörten auf ihre Fantasien und nahmen sich mit den wenigen zur Verfügung stehenden Mitteln allerhand heraus. Nachdem Gabriele Stötzer in den Jahren nach ihrer Haftentlassung 1978 (‚Staatsverleumdung‘) zunächst die Idee einer künstlerischen Manufaktur, u.a. in der Pergamentergasse 41 in Erfurt, lebte, malte, webte, zeichnete, schrieb, töpferte, arbeitete sie seit Anfang der 1980er-Jahre mit den Künstlerinnen in ihrem persönlichen Umfeld zusammen.
„Uns verband, dass wir im Jetzt und Hier leben wollten.“ (Gabriele Stötzer) Aus der Frauengruppe wurde 1984 nach vielen Namensgebungen die Künstlerinnengruppe Exterra XX, was außerirdisch klang und an weibliche Chromosomen erinnert. Bis dato die einzige Künstlerinnengruppe in der DDR. 1986 entstand der erste gemeinsame Super-8-Film “Frauenträume”.
„Für mich bedeuteten die Treffen mit der Frauengruppe, über die Gegenwart hinaus archetypische Frauenbilder zu entdecken und Visionen zu entwickeln. Wir machten u.a. zusammen Töne, Schreie, Musik, die uns zu einer eigenen Frauensprache führen sollten und die wir bei späteren Filmen als Hintergrundmusik nutzten. Unser Prinzip war, unser Leben zum Gegenstand der Kunst zu machen und in Mode, Film und Performance darzustellen. Die individuellen Proteste und Brüche bekamen so einen Sinn und halfen uns, nicht im einsamen Aufstand zu verpuffen. Oft knallten die Temperamente gegeneinander, aber auf einer tieferen Ebene erkannten wir gleiche Ideale und berechtigte Forderungen, eine Kraft, die uns immer mehr zu interessieren begann.“ (Gabriele Stötzer)
Konsequent und radikal verfolgt Gabriele Stötzer eine eigene Bildsprache, die gegen das offizielle sozialistische Frauenbild (der DDR) aufbegehrt und die patriarchale Festschreibung von Weiblichkeit künstlerisch unterläuft – Themen, die Kolleginnen wie Peaches heute noch auf die Bühne bringen (n.b.k., 12.8.18). Ihren ersten Film drehte sie 1983: „Kai und Karsten“. Der Einsatz von Super-8-Film als künstlerisches (neues!) Medium wurde durch die damalige enge Freundschaft mit Cornelia Schleime (Prenzlauer-Berg-Szene) leidenschaftlich experimentell vertieft – und zählt neben der Fotografie zu einer ihrer wichtigsten Ausdrucksformen. Stötzers Konzept bei ihren filmischen wie auch fotografischen Arbeiten wurde genährt durch das soziale Moment im jeweils gegenwärtigen Prozess, die Suche nach Ausdrucksformen in der Gruppe. Sie verwob die Emotionen und anderen Lebensthemen der einzelnen Protagonistinnen in eine gemeinsame partizipative Session.
Sie experimentierte und ihre Filme dokumentieren dies mehr, als dass sie einem Drehbuch folgen. Kostüme, Klänge, Tanz, Licht-Schatten visualisieren archaische Frauenrollen – die durch die Performance ausgelöscht werden (vgl. „Austreibung aus dem Paradies“). Naturgegebene Requisiten wie Eier, Filz, Haare werden auf dem nackten Frauenkörper relevant in „Trisal“, Drehort: ein Hinterhof. Unabhängigkeit der weiblichen Sexualität zelebriert sich, während die Assoziationen zum Ursprung des Lebens, der Geburt, zerschlagen werden. Befreiung durch Bewegung – bis zur Ekstase bringt Gabriele Stötzer ihre Protagonistinnen – besonders in “Veitstanz / Feixtanz” , aber auch bei allen Foto-Sessions.
Die Herkunft des Veitstanz ist das Mittelalter, wo sich auf öffentlichen Plätzen Erwachsene, aber auch Kinder in Gruppen bewusstlos tanzten. Auch in Erfurt versuchten 15 Frauen und Männer, dieser mythischen Kraft nahezukommen. An selbstausgewählten Plätzen, ohne Musik, entwickelte jede/r ihre/seine eigene Bewegung – bis zur Ekstase. Überraschende Bilder bauen sich nach und nach auf: aus Mut, Lust, Experimentierfreudigkeit und Spaß. Hintergründiges zur Schöpfung gemäß den alten Sagen philosophiert nur die Filmerin Gabi Stötzer …
“Veitstanz / Feixtanz” zeichnet sich durch einen schnellen Rhythmus aus, durch die raschen Schnitte in der Bildfolge, die diversen Einzelstränge und durch das hinterher daraufgelegte schneidend-klopfende Geräusch einer um die Kurve fahrenden Straßenbahn.
Mit Harriet Wollert , Silvia Richter, Susanne Truckenbrot, Frank Zieris, Ralf Gerlach, Siegfried Bauer, Monika Gießmann, Angelika Andres, Sivia Buchholz, Gabriele Kachold, Christian Elis, Ursula Mempel, Dietmar Weiß u.a.
Ob Freundschaft, Solidarität oder Eifersucht und Ablehnung: innerhalb der zehn Jahre (Gabriele Stötzer trat 1994 aus der Künstlerinnengruppe aus und ging nach den Niederlanden) wurde den Künstlerinnen doch immer wieder klar, dass sie gemeinsam in der Gruppe kreativ sein konnten und dies brauchten, um zu kanalisieren, was sie im Alltag an Zweifeln, Lähmung und Furcht plagte. Sie konnten hier schreien, ihrem nackten Schmerz Ausdruck verleihen, ganz selbst, aber auch andere sein oder in die handgefertigten Angst- oder Traum-Kleider der anderen steigen.
Allein der künstlerische Prozess, experimentell zu arbeiten und im nächsten Moment der Staatssicherheit ein Dorn im Auge zu sein, war per sé eine politische Aussage. Ausstellungen in Privatwohnungen, eine unabhängige Musikszene und Super 8-Filmvorführungen in Kellern und Hinterhöfen waren seit Ende der 1970er-Jahre in der DDR die Existenzgrundlage einer systemkritischen Bewegung, die eigendynamisch eine andere Realität schuf.
Gabriele Stötzer lebt und arbeitet in Erfurt – und beeindruckt heute in ihren Performance-Seminaren an der Uni Erfurt, wo sie 1976 politisch exmatrikuliert wurde, ihre Studenten, indem sie ihnen neue Erfahrungsräume öffnet. Sie ist auf zahlreichen Podien geladen und stellt weltweit aus.
In Berlin wird sie – gemeinsam mit Claus Löser und einigen Darstellerinnen – zu den angekündigten Talks während der Berlinale-Filmvorführungen anwesend sein.
[Text: Jana Noritsch, basierend auf Interviews mit Gabi Stötzer 2018/19]
Auf einen Blick: Filme der Berlinale Shorts 2020
2008, Blake Williams, Kanada, 12’ (IP)
À l’entrée de la nuit, Anton Bialas, Frankreich, 19’ (WP)
Aletsch Negative, Laurence Bonvin, Schweiz, 12’ (IP)
Atkūrimas, Laurynas Bareisa, Litauen, 13’ (WP)
Cause of Death, Jyoti Mistry, Südafrika / Österreich, 20’ (WP)
Celle qui porte la pluie, Marianne Métivier, Kanada, 17’ (IP)
A Demonstration, Sasha Litvintseva, Beny Wagner, Deutschland / Niederlande / Vereinigtes Königreich, 25’ (WP)
Écume, Omar Elhamy, Kanada, 28’ (WP)
Filipiñana, Rafael Manuel, Philippinen / Vereinigtes Königreich, 24’ (WP)
Genius Loci, Adrien Mérigeau, Frankreich, 16’ (IP)
Girl and Body, Charlotte Mars, Australien, 19’ (IP)
Gumnaam Din, Ekta Mittal, Indien, 29’ (IP)
HaMa’azin, Omer Sterenberg, Israel, 11’ (IP)
How to Disappear, Robin Klengel, Leonhard Müllner, Michael Stumpf, Österreich, 21’ (WP)
Huntsville Station, Jamie Meltzer, Chris Filippone, USA, 14’ (WP)
Inflorescence, Nicolaas Schmidt, Deutschland, 8’ (WP)
It Wasn’t the Right Mountain, Mohammad, Mili Pecherer, Frankreich, 29’ (WP)
My Galactic Twin Galaction, Sasha Svirsky, Russische Föderation, 7’ (WP)
Playback. Ensayo de una despedida, Agustina Comedi, Argentinien, 14’ (IP)
So We Live, Rand Abou Fakher, Belgien, 16’ (WP)
Stump the Guesser, Guy Maddin, Evan Johnson, Galen Johnson, Kanada, 19’ (WP)
T, Keisha Rae Witherspoon, USA, 14’ (IP)
Union County, Adam Meeks, USA, 14’ (WP)
Veitstanz/Feixtanz, Gabriele Stötzer, DDR, 25’, 1988 (außer Konkurrenz)
Die Premieren der Berlinale Shorts-Filme beginnen offiziell am Montag, den 24. Februar 2020. Der Vorverkauf der Tickets am 17. Februar 2020. Neben den etablierten Spielstätten CinemaxX und Colosseum wird Berlinale Shorts auch das CUBIX und den Zoo Palast bespielen. Im Zoo Palast finden erstmals die ausführlichen Publikumsgespräche statt, frei nach dem Motto „Shorts take their time“. 29.02.2020: Preisverleihung der 70. Berlinale im Berlinale Palast.
Beitragsbild: Berlinale Premiere am 24.02.2020 (v.l.n.r.) Anna Henckel-Donnersmarck, Gabriele Stötzer, Harriet Wollert, Susanne Truckenbrot und Claus Löser (Foto: Jana Noritsch)
Datum: 20.02.2020 – 2.03.2020