Kurz nach Beginn des Krieges im Februar 2022 reiste die in Berlin lebende Künstlerin Mila Teshaieva in ihre Heimatstadt Kijiw. Auszüge aus ihrem Tagebuch mit Fotografien und Texten sind noch bis zum 15.01.2023 Museum Europäischer Kulturen in Dahlem zu sehen.
Ich schreibe diesen Text ein paar Stunden nach einem russischen Raketenangriff auf ein Einkaufszentrum in der ukrainischen Stadt Krementschuk. Über den Nachrichtenticker laufen immer noch die Bilder: Rauchsäulen, zerstörte Gebäude, verletzte Menschen, Fassungslosigkeit in den Gesichtern. Niemand, der es nicht selbst erlebt oder erlebt hat, kann nachempfinden, was dieser Horror bedeutet. Und so ringt auch Mila Teshaieva immer wieder mit den Tränen, als sie im Museum Europäischer Kulturen der Presse einen Einblick in ihre Arbeit und in das, was sie aus Kijiw mitgebracht hat, präsentiert.
Splitter des Lebens – der Titel der Ausstellung spiegelt in seiner Mehrdeutigkeit das wider, was wir hier nur von der Ferne aus sehen oder durch die Menschen vermittelt bekommen, die vor den Bomben Putins geflohen sind: Zersplitterte Leben, zersplitterte Biografien, fragmentiertes Sein. Splitter, die tief eindringen, die sich entzünden, die Heilung verhindern. Splitter von Häusern, von allem, was mal war, und was nie mehr so sein wird, weil niemand die Splitter je wieder zu einem Ganzen fügen kann.
Aus einem bunten Leben ist ein Leben in schwarz/weiß geworden
“Stellen Sie sich vor”, sagt Mila Teshaieva zu den Journalist*innen, “Kijiw ist eine Stadt mit rund vier Millionen Einwohnern. Die hatten alle ihre Leben, sie hatten Pläne, wollten in den Urlaub fahren. Ganz normale Menschen. Und plötzlich ist das zunichte. Aus einem bunten Leben ist ein Leben in schwarz/weiß geworden. Stellen Sie sich vor. Nach so vielen Jahren Frieden fallen plötzlich wieder Bomben. Dort, wo ich mit meiner Mutter Pilze gesucht haben, hat ein Massacker stattgefunden.”
Es schmerzt, ihr zuzuhören. Es schmerzt, ihre Verzweiflung und die Unklarheit darüber, wie jemand so viel Leid über ein Land bringen kann, zu sehen und zu spüren. Das, was sich während der Veranstaltung in ihren Worten zeigt, setzt sich später bei der Ausstellungsbegehung fort. Der Schmerz kriecht in jede Pore. Die Texte zu lesen, die Bilder zu sehen – man muss gewillt und offen dafür sein, das auszuhalten.
Dabei hat Mila Teshaieva sich – wie sie selbst sagte – schon zensiert. Sie wollte nicht direkt den Krieg zeigen, sondern das, was der Krieg mit den Menschen macht. Und schon das ist so eindrücklich, vor allen in der Bild-Text-Kombination, dass es einen als Betrachter*in innerlich fast zerreißt. Dazu kommt die Ambivalenz, die sich einstellt, wenn unter dem ästhetischen Aspekt betrachtet, wunderbar sinnliche Fotografien das Resultat von Gräueltaten zeigen.
In ihrem Essay “Das Leiden anderer betrachten” ist Susan Sontag der Frage nachgegangen, was der Anblick eines leidenden Menschen im Betrachter auslöst. Sie fragt nach dem Zweck, danach, ob ein Bild uns dazu bewegen kann, Kriegsgegner*in zu werden, sich also aktiv gegen diesen Wahnsinn einzusetzen. Ich denke, um das zu erreichen, müssen Bilder anklagen. Das tun die Fotografien und Texte Teshaievas nicht. Ihre Bildsprache lädt eher zu Mitgefühl und Verbundenheit ein. Und sie vermittelt jene Ambivalenz, die in Zeiten entsteht, in denen es keine Gewissheiten mehr gibt. Zeiten, in denen jeder Tag anders ist.
“Mal ist es absolut inspirierend, die Kraft der Menschen zu spüren. Und dann, am nächsten Tag prägen Schmerz, Leid und Unverständnis gegenüber allem die Gedanken. Dann scheint wieder die Sonne, Und dann passiert Butscha.”
Die Künstlerin Mila Teshaieva
Mila Teshaieva ist 1974 in Kijiw geboren und dort aufgewachsen. Sie nutzt Fotografie, Video und Text in Langzeit-Projekten, um die Spannung zwischen individueller und kollektiver Identität zu beschreiben. Seit 2010 lebt die Künstlerin in Berlin. Ihre Werke werden in Museen weltweit ausgestellt und sind in einigen öffentlichen Sammlungen vertreten.
Die Ausstellung Splitter des Lebens. Ein Ukraine-Tagebuch ist eine Sonderausstellung des Museums Europäischer Kulturen.
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