Was lösen heute Worte in uns aus wie Krieg – Befreiung – Besatzung – Zivilcourage – Mut – Nationalismus – Grund- und Freiheitsrechte?
Das Ende des Zweiten Weltkrieges jährt sich zum 75. Mal und Berlin hat aus einer Großveranstaltung ein vielseitiges Digitalprojekt realisiert, eine virtuelle Ausstellung, eine Augmented-Reality-App, eine Podcastreihe – und eine analoge Plakatkampagne. „Der 8. Mai sollte jedes Jahr gesetzlicher Feiertag sein!“, begann Klaus Lederer die gestrige Pressekonferenz zu „75 Jahre Kriegsende“.
Der 8. Mai 1945 ist als Tag der Kapitulation Nazi-Deutschlands in die Geschichte eingegangen. Eine gewisse Herrschaftspraxis endete. Nachdem Hitler am 30. April 1945 Selbstmord begangen hatte, kapitulierten zwei Tage später die Verteidiger Berlins und am 8. Mai 1945 unterschrieb Generalfeldmarschall Keitel final die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht.
Befreit wurden die Gefangenen in den KZs, verfolgte Andersdenkende, Versteckte im Untergrund, Mutige, die andere versteckten, geächtete Angehörige „rassischer“ und sozialer Minderheiten, Kranke und Menschen mit Behinderung …
Befreiung für die einen, bedeutete gleichwohl ein Umdenken-Müssen der Ja-Sager, der Systemtreuen. Viele Deutsche verarbeiteten dies mit dem Mythos von der „Stunde Null“.
… Und alles begann mit Wahlen.
Es geht den Organisatoren der virtuellen Ausstellung „Nach Berlin“, der Augmented-Reality-App „Augmented Berlin“ sowie der Podcastreihe „Nach Berlin“ und des weiterführenden Partner-Programms nicht nur ums Mahnen und Erinnern, sondern auch um die erneute Bewusstmachung von Chancen: Jeder ist verantwortlich für sein/ihr Handeln.
Teil der Themenwoche vom 2. bis zum 8. Mai ist eine berlinweite Kampagne, bei der Bilder vom zerstörten Berlin 1945 mit den Headlines „Am Anfang war die Wahl“, „Willst Du, was du wählst?“ und „Eine Wahl und ihr Ergebnis“ kontrastiert werden. Sie verdeutlichen, dass demokratische Wahlen den Weg in die Diktatur des Nationalsozialismus geebnet hatten und es in der Verantwortung aller liegt, dass sich die Geschichte nicht wiederholt.
Die letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges sind schon hochbetagt. Das darf nicht nur außer Acht gelassen werden, wenn wir bedauern, dass sie 2020 erstmals nicht zur Kranzniederlegung an die Gedenkorte wie Auschwitz und Sachsenhausen reisen dürfen.
Und abgesehen davon, dass ich die überregionale Zugänglichkeit der digitalen Programme sehr schätze, frage ich mich auch, ob die virtuelle 360°-Ausstellung einerseits und andererseits die AR-Experience, das Nutzererlebnis der erweiterten Realität, nicht auch etwas unheimlich sein könnte für viele Menschen? Zeitzeugen, aber auch jüngst Geflüchtete – ich weiß es nicht. Die App beinhaltet am heutigen Tage (spannendes) Material, das im vergangenen Herbst zum 30-jährigen Mauerfall-Jubiläum erstellt wurde. Am 2. Mai werde ich die Erweiterungen ausprobieren.
Die interaktive Ausstellung „Nach Berlin“ verwandelt Teile von Jetzt-Orten (Reichstag, Alexanderplatz etc.) in die Bilder von 1945, wenn man das Smartphone oder Tablet bewegt – und plötzlich steht ein Panzer im Weg. Wer Kopfhörer verwendet hört die Hintergrundgeräusche von damals.
Auf dem Reichstag zum Beispiel weht wieder die Flagge der Roten Armee: Wer auf das berühmte Schwarz-Weiß-Foto klickt, erfährt durch Scrollen mit der Maus mehr über diesen historischen Moment, kann andere Bilder ins Bild ziehen, Videos und Animationen aufklappen, sich zwischen Kurztexten und längeren Reportagen entscheiden und weiterführende Links anklicken. Oder nach Belieben den nächsten Schauplatz ansteuern – das Brandenburger Tor, das ehemalige KZ Sachsenhausen.
Scrolling bringt die Geschichte ins Rollen und illustriert die Hintergründe. Die Informationsdosis bestimmt jeder selbst, wie in einer realen Ausstellung.
AR-Technologie liegt der App „Augmented Berlin“ zugrunde, die sich unter anderem dem Thema Leben im Untergrund widmet. Ausgehend vom zerstörten Pariser Platz startet die Zeitreise am 8. Mai 1945, springt kurz danach in das Jahr 1933 zurück um am Ende der Erzählung wieder im Jahr 1945 anzukommen. Die User*innen werden Zeug*innen der schrittweisen Verdrängung der Berliner Jüd*innen aus dem öffentlichen Leben bis hin zur Deportation ab 1941. Zwei Schicksale dienen als Hauptquelle: Karin Friedrich, Widerstandskämpferin der Gruppe „Onkel Emil“ und Jizchak Schwersenz, ein jüdischer Lehrer, der sich der Deportation entzog und mit einem Teil seiner Schüler*innen in den Untergrund ging. Bereits jetzt erlebbar sind fünf Stories zu „30 Jahre Friedliche Revolution – Mauerfall“, die Kulturprojekte Berlin gemeinsam mit BetaRoom anlässlich der Festivalwoche im November 2019 entwickelt und erstmalig in der AR App MauAR gelaunched hat. Die App soll auch künftig wachsen und um vielfältige Themen rund um Berlin erweitert werden.
Dazu wird es auf Apple, Spotify und unter www.75jahrekriegsende.berlin vom 2. bis zum 8. Mai jeden Tag eine Podcastfolge geben. Jede der sieben Podcastfolgen widmet sich einem konkreten Thema, das sich am historischen Geschehen festmacht und uns bis in die Gegenwart beschäftigt – von Antifaschismus bis Zivilcourage. Mehr oder weniger prominente Plätze liefern reichlich Diskussionsstoff: der Reichstag natürlich oder der Alexanderplatz, aber auch das Olympiastadion oder die Gedenkstätte des Nationalsozialistischen Zwangslagers für Sinti und Roma in Marzahn. Weitere Orte sind ein Tunnel im Tiergarten und der Kurfürstendamm. Katja Weber von Radio Eins und Deutschlandfunk-Reporter Markus Dichmann gehen der Sache nach. Ihre Gesprächspartner*innen sind Expert*innen, Wissenschaftler*innen, Künstler*innen – und Menschen, die sich diesen Schauplätzen auf besondere Weise verbunden fühlen. Unterwegs treffen historische auf persönliche Sichten – und unterschiedliche Perspektiven sind erwünscht. Auch werden prominente Persönlichkeiten wie Shermin Langhoff, Raul Krauthausen, Klaus Lederer, Daniel Hope, Juna Grossmann oder auch Fetsum kurz zu Wort kommen, um ein Statement mit ihrer Perspektive auf das jeweilige Thema abzugeben.
Das Kriegsende 1945 in Berlin ist Geschichte, aber gerade an diesen besonderen Adressen auch Ausgangspunkt für den politischen Diskurs in unserer heutigen Gesellschaft.
Wahnsinnig interessant und ganz aktuell ist die Auseinandersetzung mit der Thematik insbesondere durch unsere Erlebnisse in den vergangenen sechs Wochen – irgendwie ist die Gesellschaft nach der ersten Covid-19-Schockstarre („Ausgebremst“) ja doch auch wieder in Schwarz/Weiß geteilt, in die Ja- und in die Nein-Sager (Virusgefahr, Lockdown, Masken, Impfungen, Schulschließungen etc.).
Bewahren wir uns also die Grauzone – am besten ganz bunt!
Danke an Kulturprojekte Berlin und alle Partner für die prompte Umsetzung der partizipativ und analog konzipierten Veranstaltung in die umfassenden digitalen Möglichkeiten!
© Text: Jana Noritsch
Weitere Informationen: #75jahrekriegsende
www.75jahrekriegsende.berlin (ab 2. Mai)
www.facebook.com/75jahrekriegsende.berlin
www.kulturprojekte.berlin/projekt/75-jahre-kriegsende
Das Projekt ist eine Kooperation von Kulturprojekte Berlin mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und dem Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst, unterstützt von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Es entsteht in Zusammenarbeit mit weiteren Partnern, unter anderem der Stiftung Topographie des Terrors, dem AlliiertenMuseum und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Ermöglicht wird es aus Mitteln der LOTTO-Stiftung Berlin und mit Unterstützung der Berliner Sparkasse.
Beitragsbild: Kampagne 75 Jahre Kriegsende 2 © Kulturprojekte Berlin, Foto Christian Kielmann
Datum: 2.05.2020 – 9.05.2020