Kunstleben Berlin Kolumne von Jeannette Hagen. Nino Bulling ist längst kein Unbekannter mehr in der Graphic-Szene: 1986 in Berlin geboren, studierte er Illustration an der Hochschule für Kunst und Design in Halle. 2012 erschien Im Land Der Frühaufsteher – eine Reportage über die Kämpfe geflüchteter Menschen in Sachsen-Anhalt. Lichtpause folgte 2017 und 2019 erschien Bruchlinien. Drei Episoden Zum NSU, diesmal in Zusammenarbeit mit Anne König. Und nun 2022 abfackeln – eine intime Erzählung über ein trans*Paar, über Identität, über Suche, alles eingebunden in den Kontext der globalen Klimakrise.
Auf den ersten Blick ein weiter Bogen, den Bulling da zieht – auf den zweiten keineswegs, denn so wie sich vor unseren Augen im Außen Gewissheiten verabschieden, Veränderungen über uns hereinbrechen, erleben viele Menschen auch im Inneren Umbrüche, verabschieden sich von Lehrmeinungen, Glaubenssätzen und von Vorstellungen darüber, wie etwas zu sein – wie man selbst zu sein hat. Wer bin ich, wenn außen und innen das Feuer tobt? Was bleibt von mir, wenn sich alles ändert? Die Frage nach der Identität des Einzelnen geht häufig mit der Frage nach der sexuellen Identität einher. Klassische Geschlechterrollen brechen mehr und mehr auf, was plötzlich Raum für Fragen lässt. Zum Beispiel für jene, wo man sich selbst verortet. Oder ob man sich überhaupt fest verorten muss. Kann ich mich nicht als Mann und als Frau fühlen? Was gibt es jenseits von diesen Zuschreibungen?
Jede Entscheidung für das eine lässt etwas anderes zurück. Vor dieser Hürde steht Ingken, die Protagonistin der Graphic Novel abfackeln.
“Ingken ist mit Lily zusammen, die mit sich und ihrem Leben im Reinen zu sein scheint. Ingken hingegen hat zu kämpfen, vor allem mit sich selbst. Vor dem Hintergrund globaler Klimaveränderungen ist Ingen auf der Suche nach einer selbstbestimmten Identität, einem neuen Namen, nach den Dingen, die bleiben dürfen, und solchen, die verschwinden sollen.”
Sie macht es sich nicht leicht, fragt sich, warum sie nicht schon früher eine Entscheidung getroffen hat und wie sie es überhaupt so lange aushalten konnte. Auch diese Fragen sind im Kontext der Klimaveränderungen relevant – spätestens seit den 70-ern ist bekannt, wie unsere Art zu leben und zu wirtschaften das Klima verändern wird, weitergemacht haben wir trotzdem. Gibt es ein zu spät für radikale Veränderungen?
Die Graphic Novel von Nino Bulling beantwortet die Frage nicht. Sie lässt den Ausgang offen, lässt sogar Seiten frei, die wir mit unseren Gedanken oder Skizzen füllen können. Nachdem wir Ingken durch den Frühling. den Sommer und den Herbst begleiten, bleibt unklar, was der Winter bringt.
Nino Bulling überlässt uns nicht nur das Ende, trotz der Größe und der Tiefe der Thematik schenkt Nino uns mit der Graphic Novel Leichtigkeit. Diese entspringt der einfach gehaltenen Linien- und Strichführung und dem dadurch entstehenden Raum. Dieser Effekt vervielfältigt sich, wenn man die luftig leichten Tücher aus Seide betrachtet, die Nino Bulling auf der documenta fifteen ausstellt. Die Zeichnungen darauf sind an die Graphic Novel angelehnt, und gehören für mich persönlich zu den Werken, die leider durch den Fokus auf die antisemitischen Darstellungen, ein bisschen untergehen. Wie im Comic Band selbst, ist es die Art der Darstellung, die die Transformation schon in sich trägt und die die Arbeiten von Bulling zu etwas ganz Besonderen machen.
Nino Bulling, abfackeln, Edition moderne, ISBN 978-3-03731-234-6, https://www.editionmoderne.ch/buch/abfackeln/
Nino Bulling auf der Documenta Fifteen: https://documenta-fifteen.de/lumbung-member-kuenstlerinnen/nino-bulling/