Felix Kiessling – Echzeit

Der Schwindel ist eine Weise, sich in der Welt zu orientieren, sie zu erkennen, indem man taumelnd an die Grenzen des eigenen Körpergefühls stößt. Im Schwindel transzendiert die Linearität des Raumes, Proportionen zerrinnen und eine rauschhafte Auflösung des Selbst setzt ein. Was passiert hier, jetzt, mit mir, mit uns, mit der Welt?

Für die Ausstellung Echtzeit erschafft Felix Kiessling einen Raum, in dem die Dinge keinen vollständigen Sinn ergeben – einen Raum, den wir nicht verstehen, der unsere Vorstellungskraft übersteigt. Erst im Kontrollverlust, erst durch das Einlassen, das Loslassen, das Fallen-Lassen haben wir die Möglichkeit, den Blick für einen flüchtigen Moment auf die Zusammenhänge der objektiven Wirklichkeit zu richten.

Denn im Moment des Schwindels offenbaren sich die apokalyptischen Auswüchse der urbanisierten Konsumgesellschaft. Die kapitalistische Rationalisierung bemisst, verrechnet, berechnet, quantifiziert, hierarchisiert und kontrolliert die Ausbeutung von Natur und Ressourcen, von Beziehungsweisen und sinnlichen Erfahrungen. Die künstliche Dichotomie zwischen Natur und Kultur, die vermeintliche Überlegenheit der Gesellschaft über die Naturgewalten, über die Zeit und den Raum zerfällt im Moment des anarchischen Taumels. Wir erkennen das Zufällige, Unvorhersehbare, Verlorene, Nichtige des in der Welt Seins. Auf spielerische Weise experimentiert Kiessling mit der menschlichen Wahrnehmung, indem er Artefakte und Relikte einer urbanisierten Wirklichkeit mit den elementaren Kräften der Natur verbindet. In dem Gesamtgefüge seiner Arbeiten befragt der Künstler die Verbundenheit der Elemente und die Zusammenhänge der Welt. Im Dämmerlicht verschwinden die Hierarchien zwischen den Objekten und ihren Betrachter*innen, hinter der Dekonstruktion des Bekannten treten die verbindenden Elemente der Wirklichkeit in Echtzeit zu Tage.

In seinen phänomenologischen Arbeiten übersetzt Kiessling physikalische und kosmologische Kräfte, die für uns nicht erfahrbar, aber dennoch untrennbare Bedingung des irdischen Lebens sind, in kinetische Skulpturen. Bewegliche Elemente sorgen für einen besonderen optischen oder akustischen Reiz. Die Arbeit »Seismisches Schlagzeug« trommelt mit an einem Ende zu Drumsticks freigeschnitzten Eichenästen seismische Echtzeit–Daten gegen die Wände. Motorisiert von Schrittmotoren und gekoppelt an eine seismische Karte des Erdinneren geben die Drumsticks den Takt der Welt wieder. Die durch unsere Konsumgesellschaft ausgebeutete Natur wird von Kiessling zurück in seine Ursprungsform versetzt, indem das menschlich Erschaffene mit der natürlichen Vorlage zusammengeführt wird.

Ein selbstspielender Kontrabass wird in der Arbeit »Schuhmann KB« zum Hohlraumresonator der Welt. In Echtzeit stimmen die Saiten raunend und wie von Geisterhand bewegt die Schumann-Niederfrequenz an. Das Phänomen bezeichnet die Resonanz einer elektromagnetischen Welle der Erdoberfläche, die außerhalb des für die menschlichen Sinne wahrnehmbaren Spektrums liegt. Kiessling übersetzt die Töne in unsere Hörfrequenz und macht sie unserem Vorstellungsvermögen in Echtzeit zugänglich. So treten wir in Kontakt mit den physikalischen Gesetzen, die unsere Existenz bedingen. Das Raunen sind wir, wir hören uns.

Felix Kiessling, Echzeit, installation view, alexander levy, courtesy of alexander levy and the artist, photo: Marcus Schneider
Felix Kiessling, Echzeit, installation view, alexander levy, courtesy of alexander levy and the artist, photo: Marcus Schneider

Die Scheinwerfer eines am Boden liegenden Motorrads flackern, das flimmernde Leuchten wirkt kaputt, die stille Bewegung eines der Räder vermittelt den Eindruck eines abrupten Aufbruchs im Angesicht der Katastrophe. Das Nachschwingen ist noch vernehmbar. Die Arbeit „Schmetterling (Kraftrad)“ übersetzt die elektrostatische Spannung globaler Blitzeinschläge in Echtzeit: Jedes Mal, wenn irgendwo auf der Welt ein Blitz auf die Erdoberfläche trifft, flackern die Rücklichter. Die Absenz der Subjekte in den drei Arbeiten treibt die Funktionalität der Objekte ins Absurde – eine dystopische Welt der Dinge, die untrennbar verbunden ist mit natürlichen Phänomenen und Naturgesetzen. Als Abfolge dringen die drei Arbeiten durch die Erdschichten an die Oberfläche und darüber hinaus, parallel zeichnen sie den zivilisatorischen Bogen der technischen Fortentwicklung, der Entfremdung von Zivilisation und Natur, nach.

Das Raunen, Flackern und Klopfen der Welt verblasst, im Dunkeln erscheint eine Bar. Wir gelangen zur Gegenständlichkeit der alltäglichen Sphäre, doch die Bar ist verlassen. Da ist wieder das Gefühl eines abrupten Aufbruchs, einer postapokalyptischen Zeug*innenschaft, ohne dass man weiß, ohne dass man erkennen kann, was an diesem Ort zuvor geschehen ist. Wir verstehen, aber eigentlich verstehen wir nicht. Ein sozialer Moment ohne Sozialität. Die Bar lädt die Betrachtenden ein, näher zu kommen und in Kontakt zu treten für einen Augenblick.

Durch die Verfremdung, durch die Deformierung der sozialen und physischen Moleküle macht Kiessling die eigentliche Substanz der Welt sichtbar. In der Arbeit „Die Betrunkenen“ verhalten sich zwei durch Hitze verformte Schnapsflaschen zu- und miteinander, ihre Berührung ist eine Momentaufnahme der Zufälligkeit. Ihre Umarmung ist überraschend zärtlich, sie stützen sich gegenseitig im Schwindel. Die Betrinkenden werden selbst zu Betrunkenen, in den Überbleibseln des Urbanen erkennen wir uns wieder. Das Gesamtgefüge der Ausstellung wird durch eine Klangarbeit aus vereinzelten, unzusammenhängenden Worten und Fragmenten ergänzt. Sie erinnern an Bahnhofsdurchsagen und erwecken Assoziationen einer verlassenen S-Bahn-Station. Ausgedehnte Pausen fragmentieren den akustischen Zusammenhang – Wo sind wir? Wie sind wir an diesen Ort gelangt?

Felix Kiessling kreiert Echtzeit-Begegnungen mit einem flüchtigen Jetzt, das im nächsten Moment der Vergangenheit angehört. Die Entfremdung zwischen Urbanität und Naturgewalt, die Rationalität des Konsums lösen sich in seinen Werken für einem Augenblick auf. Die räumlichen und zeitlichen Dimensionen der Installationen übersteigen unsere Vorstellungskraft, sodass wir für einen kurzen Moment das kognitive Gleichgewicht verlieren. Auch der Künstler hat sich dem Kontrollverlust verschrieben. Es bleibt ein Bauchgefühl, aber die Auflösung ist offen.

Text von Almut Poppinga

Felix Kiessling – Echzeit

3.03.2023 – 8.04.2023

alexander levy

Veröffentlicht am: 28.03.2023 | Kategorie: Ausstellungen, Kultur, Kunst, Top 3,

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