Kunstleben Berlin Kolumne von Jeannette Hagen. Gut ein Monat ist vergangen, seit ich meinen Text über die documenta fifteen hier veröffentlicht habe. Um nicht in der Frustration hängen zu bleiben, habe ich mir einen Gesprächspartner gesucht, der mittendrin ist und die diesjährige documenta als Kooperationspartner begleitet: Dr. Martin Heller ist Mitgründer der lumbung-gallery und der Non-Profit-Plattform The Artists.
Vielleicht erinnerst Du Dich – in meinem Beitrag ging es unter anderem um mein Gefühl, ausgeschlossen zu sein von einem Prozess, der sich wahrscheinlich nur erschließt, wenn man selbst als Künstler:in auf der documenta dabei ist. Dazu der Gedanke, dass man mindestens drei Tage Zeit haben muss, um sich wirklich einzulassen zu können und einzutauchen in etwas, dass schlichtweg neu ist. Nun bin ich die Letzte, die etwas, nur weil sie es nicht versteht oder nicht annehmen kann, abwertet, darum dieses Interview. Wir hatten uns per Zoom verabredet und während er vor einem eingeblendeten „Schäfchenwolken-Hintergrundbild“ mitten in der lumbung-gallery saß und die Geräusche des Treibens in der Galerie während unseres Talks hörbar waren, erweiterte sich mein Blick auf das, was vorher fremd war und vielleicht ist es ja auch für Dich eine Einladung:
Lieber Martin Heller, wie ist die Stimmung derzeit?
Martin Heller: „Sehr gut. Die Stimmung war immer gut. Das ist ja der Witz, dass die Stimmung immer gut war und wenn man die Zeitung aufschlug, dachte man „Was ist denn da los?“ Die Stimmung der Menschen, die die documenta besucht haben, war immer sehr gut und auch – das kann ich sagen – durch die Bank weg bei allen möglichen Besuchern. Also von ausländischen Besuchern, von Fachbesuchern, von Kasselanern, von Sammlern, von Museumsleuten. Ich habe jedenfalls immer ein sehr gutes Feedback bekommen. Kritik ist ja die eine Sache, aber diese fundamentale Ablehnung, die gab es hauptsächlich in der Presse. Ich glaube, die documenta bietet so viele neue Ansätze und so viel Gelegenheit, über bestimmte Dinge nachzudenken, dass das einigen Leuten wirklich gegen den Strich ging und geht. Weil das an ihren Machtpositionen kratzt, an ihren gefestigten, europäischen, tradierten Deutungshoheiten. Und es gibt viele, die sich auf das Neue eben nicht mehr einlassen wollen.“
Na ja, ich gebe zu, ich habe mich auch nicht wohlgefühlt. Mir war die documenta, als ich letzten Monat vor Ort war, extrem fremd. Darüber habe ich auch geschrieben.
Martin Heller: „Oh, das ist interessant. Ich höre immer das Gegenteil: »Ich bin nah, es gibt keine Barriere, kein Elitismus, ich muss kein Vorwissen haben, ich kann mich dem nähern.« Vermutlich ist es eine Frage, wie viel Zeit man sich lässt. Ich sage jedem, der nur ein paar Stunden hierher kommen will, dass er es eigentlich lassen kann. Weil man sonst frustriert ist. Und das ist schade. Aber ich verstehe das. Es dauerte auch bei mir, bis ich mich reingearbeitet hatte. Ich komme ja aus dem klassischen Kunstbetrieb, habe seit den 90ern Galerien und Künstler beraten, Studios mit aufgebaut, das Gallery-Weekend ist in meinem Büro gegründet worden. Aber ich war auch an dem Punkt, wo ich gedacht habe: Irgendetwas muss passieren. Deswegen haben wir ja die Plattform The Artists gegründet. Gar nicht, weil ich denke, ich bin jetzt so der Super-Revolutionär. Ich merke einfach, dass alle so ein Gefühl haben, dass zumindest irgendwas dazukommen muss. Das bestätigen auch Galeristen-Freunde – und da sind namenhafte dabei. Sie haben bei The Artists schon gesagt: »Super! Das ist eine tolle Ergänzung.« Und hier auf der documenta meinte eine Chefkuratorin: »Das ist ein sehr generöses Angebot – es wird niemand gezwungen.«
Und das ist das, was so interessant ist. Man kann sagen: Guckt Euch das doch mal an! Mein größter Gewinn hier ist, dass ich Kollektivismus ganz anders kennengelernt habe, als ich ihn kannte. Ich in meinem Alter bin natürlich vorgeprägt von einer antikommunistischen Bundesrepublik, wo man immer dachte, im Kollektivismus wird alles sofort gleich, grau, versinkt in einer nicht individuellen Masse. Alles wird farblos, so ein bisschen wie die DDR nach dem Mauerfall aussah, eben grau. Und das ist hier ist das Gegenteil davon. Zum ersten Mal merke ich, dass das dazu dient, dem Individuum mehr Raum zu geben, damit es sich entfalten kann. Weil der Druck, der im Investmentkapitalismus herrscht, weg ist. Wir befinden uns ja jetzt schon nicht mehr in einem Unternehmerkapitalismus, sondern es ist alles fremdgesteuert und hat mit dem Produkt und mit den Sachen nichts mehr zu tun, sondern nur noch mit Shareholder value. Und das gilt teilweise auch für die Kunst. Hier ist man wieder dichter an der Kunst dran, der Mensch fühlt sich wieder als Teil von etwas. Übrigens auch Sammler. Sammler fühlen sich nicht mehr nur als Bankmaschinen.
Man muss sagen: Die Kunst lebt von vielen Menschen, die Kunst kaufen, weil sie wirklich begeistert sind. Es ist ja nicht so, dass das alles böse Spekulanten sind, wir hatten hier auch die Diskussion bei uns in unserer working group von der lumbung-gallery – wir sind ja ein Kollektiv. Ich habe mich immer gegen das Wort spekulativ gewehrt. Natürlich gibt es diesen spekulativen Markt, aber das ist ein kleiner Teil und der bezieht sich auf den secondary market. Im Erstmarkt hat man einfach so viele tolle Leute, die Werke kaufen und ein Risiko eingehen. Und das gilt auch für Galerien – die vertreten Künstler und investieren Geld und Zeit. Manche stecken richtig viel Energie rein – deswegen ist The Artists auch auf gar keinen Fall eine Anti-Galerie.
Natürlich gibt es auch die Gegenbeispiele – große Galerien, die so tun, als wären sie eine Galerie, aber eigentlich sind sie Händler von Sachen. Was auch ok ist, aber eben nicht, wenn man sich mit der Aura der Förderung umgibt. Das wird jetzt im Herbst nochmal schlimmer, weil alle neue Märkte erschließen wollen. Die Art Basel hat ein großes Künstlerförderprojekt – irgendwas mit Blockchain. Die haben Hunderttausende von Euro an Beratungskosten ausgegeben und wollen im Grunde auch ein neues Wirtschaftsmodell präsentieren, was aber nach hinten losgehen wird, weil es eigentlich nur um Profitmaximierung geht. Und das ist der Unterschied. Darum geht es hier bei uns nicht, sondern hier geht es auch um Ressourcenverteilung. Darum, dass jeder genug hat, um das zu machen, was ihm wichtig ist.
Glauben Sie, dass man diese Idee oder das, was Sie praktizieren, an die Besucher wirklich herantragen kann?
Martin Heller: Das geschieht sicher durch die vielen offenen Formate, die es hier gibt. Die vielen Workshops. Man merkt auch, wenn die Leute nach Preisen fragen, dass sie dann ganz erstaunt sind, dass es bei 100 Euro anfängt und nach oben gibt es eine Grenze, weil wir einfach eine natürliche Begrenzung haben.“
Das war übrigens ein Kritikpunkt meinerseits – ich wusste gar nicht, dass man Werke kaufen kann.
Martin Heller: „Ja, das ist seltsam. Es gab so viele Presseerklärungen dazu, und leider muss man sagen, dass die durch die andere Presse, die sich ausschließlich um die Antisemitismus-Debatte gekümmert hat, gar nicht aufgegriffen wurden. Da hat sich einfach keiner mehr für interessiert. Die Preisgestaltung richtet sich nicht nach irgendwelchen ausgedachten Wertkriterien, sondern ganz pragmatisch nach einer Mischung aus den Produktionskosten, die alle pauschalisiert in gleicher Höhe bekommen haben und dem höchsten Mindestlohn, der einem teilnehmendem Künstler in seinem Heimatland gezahlt wird. Das ist in dem Fall der von Australien. Und daraus wurde eine Formel geschaffen, das sind dann 70 Prozent des Preises und dann kommen 30 Prozent für den lumbung-Topf on top und das ist dann die maximale Summe für alle Werke, die ein Künstler oder ein Kollektiv auf der documenta hat. Und unsere Aufgabe ist es, das untereinander abzugleichen – also eine Edition hat einen anderen Preis als eine unique work oder eine Skulptur, aber in der Summe darf es nie mehr sein, als die Summe, die wir errechnet haben. Somit gibt es bei uns auch nicht den Fall, dass einer kommt und sagt: »Du, ich gebe Dir jetzt 10.000 Euro oder mehr. Kriege ich das dann?« Das gibt es bei uns nicht. Und dazu kommt, dass wir uns sehr für die nicht körperlichen Arbeiten – für Performances und Workshops einsetzen–, damit die auch einen Markt finden. Wir entwickeln also neue Wege das anzubieten. Im Grunde ist es eine Mischung aus Theater, als wenn man Lizenzen für Theateraufführungen verkauft. Da sind wir gerade noch mittendrin. Und da gibt es viel Interesse, also die ganzen public programs auf der Welt brauchen ja Material und da gibt es hier jede Menge: bis zum Kollektiv Gudskul aus Indonesien, das im Fridericianum sehr komplexe Workshops anbietet. Meine Idee war, dass Gudskul die nächsten fünf Jahre in Kassel bleibt – jedes Jahr für zwei Workshops. Und die Stadt Kassel ist ganz interessiert daran. Wir basteln gerade Pakete dafür.
Ich glaube, die Vielfältigkeit der Aktivitäten ist das, was leider untergeht, wenn man zu wenig Zeit hat. „Nehmt Euch Zeit!“, sage ich immer. Weil man ja auch abends noch zusammensitzt. Dann wird gekocht bei Gudkitchen, dann können Freunde von Freunden mitkommen und so lernt man die Menschen kennen. So kommen auch Begegnungen zustanden, die enorm spannend sind.“
Nochmal zurück zum Kollektiv: Es gibt sie doch, die Ausnahmekünstler*innen. Gehen die in diesem Konstrukt nicht unter?
Martin Heller: „Na klar gibt es im normalen Kunstbetrieb immer welche, die herausstechen und die dann auch hofiert werden. Das Problem sehe ich darin, dass das so extrem geworden ist. Wie oft lese ich irgendwelche Posts: »The best new artist coming…« Und das ist natürlich totaler Blödsinn, weil es gibt ja keine objektiven Vergleichskriterien. Es gibt da aber noch etwas anderes, das mich beschäftigt, dass es eben unter denen, die gehypt werden, auch oft jene gibt, die sich zu Tyrannen und Diktatoren entwickeln und nach außen so tun, als würden sie die bessere Welt verkünden. Man muss diese Verlogenheit auch mal darstellen. Eigentlich sind sie nichts anderes als BlackRock-Manager oder Elon Musk Typen.
Uns hier geht es eher darum, nicht zu sagen: »Das darf nicht sein«, sondern herauszustellen, dass es viele Menschen gibt, die denken: »Oh, das ist so teuer, da habe ich gar kein Budget.« Und wir wollen eben zeigen: »Doch, Ihr könnt. Und es ist auch Kunst, die ernsthaft gemacht ist. Da sind Leute, die dem ihr Leben widmen. Wenn ich mir ansehe, wer sich aktuell alles der jungen Künstlerförderung annimmt, dann zielt das gewiss auch darauf, diese extreme Spitze ein bisschen zu verflachen. Und dadurch auch mehr Menschen den Zugang zu Kunst zu ermöglichen. Und da werden wir auf jeden Fall dranbleiben, denn das ist wichtig, sonst kommt man ästhetisch, intellektuell und thematisch in die Diktatur von Leuten, die einfach vermeintlich etwas verkünden oder die Kunst repräsentieren.
Dass es immer ein paar gibt, die herausstechen, das ist klar. Aber wir wissen alle nicht, was die Kunstgeschichte ein paar Jahrhunderte später über sie sagen wird. Manche werden verschwinden, andere tauchen wieder auf, manche werden neu entdeckt werden. Das sieht man ja auch daran, wie viel ältere Positionen in letzter Zeit wieder interessant werden – ältere Frauen zum Beispiel, die plötzlich Superstars werden. Ich glaube, es gibt ein Bedürfnis: Wir erleben, dass die Leute ganz fasziniert sind, wenn sie erfahren, dass man hier richtig gute Originalwerke für 2000 Euro kaufen kann – also original documenta-Werke. Wie viel Geld geben wir sonst für Irgendetwas aus?
Und auch für andere Formen des Miteinanders. Wir haben Kunst vermittelt an Leute, die sagen: Ich bin Sammler und im Gespräch kamen wir dann drauf, dass für den Künstler, für das Kollektiv zwei Traktoren rausspringen, weil der Sammler ein Weingut hat, und die Traktoren nicht mehr braucht. Und dann nehmen die Künstler sie mit in ihr Dorf, weil dort werden sie noch eine Verwendung für die Traktoren haben. Meine Vision ist, dass die Leute bei Großinstitutionen – meinetwegen bei der Biennale Venedig – wegkommen von diesen teils verlogen Veranstaltungen, wo Freunde mich im Anschluss fragen: »Wer hat denn den Goldenen Löwen gewonnen, war das jetzt der oder der?« Wo man einfach merkt, dass es gar nicht mehr um die Kunst geht. Das tut doch auch den Künstler nicht gut.
Also wir haben da ein ganz weites Feld vor uns und ich bin sicher, dass ganz viele Leute mitmachen. Wir brauchen natürlich Unterstützung und eben auch eine Presse, die nicht nur über Auktionsrekorde berichtet, sondern sich auch mal traut, in den Bauch des Ganzen zu steigen. Ich habe mich mein ganzes Leben mit der Kunstproduktion beschäftigt: Wie kommt das zustande, wie organisiert man sich, wie lernt man Assistenten an, wie baut man sich auf, wie bleibe ich als Künstler bei mir, obwohl ich ja auch mein Leben noch bewältigen muss, wie gehe ich mit den Galeristen, wie mit dem Markt um? Wo sind die Grenzen, was sind die rechtlichen Strukturen. Das klingt natürlich langweilig, aber man kann das auch interessanter auffächern. Sonst laufen natürlich auch alle einem Mythos nach. Ein bisschen Mystik kann ja gern bleiben, aber ich will einfach, dass ein bisschen mehr Raum für die Kunst bleibt und dass Kunst weniger nach den Kriterien des Marktes beurteilt wird. Dass die Menschen auch wieder intuitiv auf Kunst zugehen, offen sind und Fragen stellen.
Und wie erreichen Sie das? Wie sehen Ihre Pläne aus?
Martin Heller: „Wie gesagt, machen wir am Ende der documenta einen harvest – eine Ernte. Die Idee ist, hier weiterzumachen mit der lumbung-gallery. Wir haben ja einen Verein, da gibt es kein Shareholder value, jeder kann uns kopieren, jeder kann die Idee kopieren, weitertragen. Wir waren jetzt die ersten, wir werden zusammenfassen, wie man so etwas aufbaut, wie unsere Erfahrungen sind und dann werden wir das für kleines Geld in die Welt geben oder auch online stellen, sodass jeder sich bedienen und es auch so machen kann. Wir sind jetzt schon von einigen Instituten, Wirtschaftseinrichtungen und Universitäten eingeladen worden.
Also ich glaube, dass das so sein wird wie mit dem sprichwörtlichen Schmetterlingsflügel, der etwas auslöst, was dann weitergetragen wird. Wir werden die Galerie weiterbetreiben, wir haben das Lager der documeta noch für ein ganzes Jahr. Es ist natürlich auch eine Frage der Finanzen – ich persönlich habe hier in den drei Monaten unglaublich viel reingesteckt für ein Honorar, das dem eines Galerieassistenten entspricht. Aber das war es mir wert, wir haben unglaublich viel gelernt und wir schauen, wie The Artists davon profitieren kann. Es war ja auch als Labor gedacht. Vielleicht geht es auch in eine reine Workshop- und Learningplattform über. Also dass wir mit einem Teil des Geldes, das wir im lumbung-gallery-Topf haben, vielleicht ein Institut eröffnen und Workshops für die Kunstwelt anbieten. Da sind wir offen. Momentan sind wir noch so in der Detailarbeit versunken damit, Bilder rauszusuchen, Maße mit den Künstlern zu besprechen, herauszufiltern, was ihre Arbeit ist, was dazugehört, wie wir die einzelnen Pakete packen, wenn es Kaufinteressenten gibt. Da haben wir jetzt nicht mehr so viel Zeit. Aber das wird.“
Vielen Dank für das Gespräch, Dr. Martin Heller.