Anna Boghiguian, 1946 in Kairo als Kind armenischer Eltern geboren, ist eine Ausnahmekünstlerin. Sie studierte in Kairo Politik- und Sozialwissenschaften, später Kunst und Musik in Montreal. Ihr Werk beginnt in den frühen 1970er Jahren und gilt lange Zeit als Geheimtipp – seit 2011 mehren sich dann Teilnahmen an Biennalen, sie ist auf der documenta 13, es folgen wichtige Museumsausstellungen. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen inhaltlich die nomadischen Bewegungen der Künstlerin, die sie rund um den Globus und zu ihren Themen führen, und formal die Künstlerbücher, die bei diesen Bewegungen entstehen und von denen über 70 veröffentlicht wurden.
Die spontane, weit assoziierende Sprache dieser Bücher prägt auch das malerische und installative Werk Anna Boghiguians. Die beiden raumgreifenden Installationen, die KOW zeigt, sind beispielhaft dafür.
Die Künstlerin verwebt lokale Momente und globale Ströme von Waren, Märkten und Kapital, von Menschen, Ideen und Regimen, von Mächten und Gegenmächten. Sie legt dabei ungekannte narrative Fäden zwischen Zeiten, Orte und Akteure, die – mal zentral, mal peripher gelegen – sich historisch verbinden lassen. Und so liest sie das Weltgeschehen quer. Es ist eine subjektive Sicht, die aufgreift, sammelt und vernetzt, aber auch vereinzelt. Da sind Körper und Schicksale, die aus dem großen Rad der Ereignisse in die Wahrnehmung fallen. Da sind Schriften, mal privat, mal aus literarischen Quellen, die durch die Zeit ins Aktuelle führen. Da sind Materialien wie Zinn oder Seide, an denen sich die Kämpfe um Ressourcen entfachen, deren Produktion und Handel den menschlichen Erdball strukturieren. Da sind Augenblicke – einzelne Konstellationen von Figuren und Themen – eingefroren zu lebendigem Ausdruck in Strich, Farbe, Form und Geste.
Im Erdgeschoss ist die Installation A Tin Drum That Has Forgotten Its Own Rhythm zu sehen (2019). Sie geht aus von der industriellen Geschichte und Kultur Cornwalls im Südwesten Englands. Es ist eine Geschichte des Abstiegs. Einst war der Zinnbergbau in Cornwall einer der aktivsten der Welt – 1998 schloss die letzte Mine. In der für Tate St Ives entstandenen Installation stehen aus Stahlblech ausgeschnittene Figuren im Raum, die mit Zinn, Nickel und Kupfer galvanisiert sind. Ein Verfahren, mit dem die Konservendosen gefertigt wurden, in die man vor der Küste gefischte Sardinen verpackte. Traditionen der Arbeits- und Lebenswelt Cornwalls tauchen in den Figuren auf, die Zeichnungen ergänzen. Eine unbewegte Trommel erinnert an den Rhythmus einer verschwundenen Zeit.
Die Installation The Silk Road im Obergeschoss entstand in Japan (2021). Sie blickt zurück auf die Geschichte der Seidenstraße, die auch Japan und Ägypten miteinander verband, und die neben ihrer Funktion für den Handel ebenso geistige und kulturelle Ströme transportierte. In Gemälden, Zeichnungen und einer Karte erzählt Boghiguian von den Schattenseiten des wirtschaftlichen Aufschwungs im Japan des 19. und 20. Jahrhunderts, der nicht zuletzt von der harten, oft unsichtbaren Arbeit der Mädchen und Frauen getragen wurde, die in den Textilfabriken an den Webstühlen saßen. Deren Erfinder Toyoda Sakichi begründete eine Dynastie, die später die Weltmarke des Autobauers Toyota aufbaute. Boghiguian verwebt diese Erzählungen, in denen das Schicksal Einzelner mit dem Schicksal einer Nation verbunden ist, mal zum Wohl und mal zum Weh der Menschen, die durch die Geschichte gehen.
Im Showroom von KOW hat Alice Creischer einen Raum zusammengestellt, in dem Arbeiten der Künstlerin Werken Anna Boghiguians begegnen. Hervorzuheben ist Creischers Gedicht His Masters Voice (2015), das auf die Rede von Bundespräsident Joachim Gauck bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 reagierte. Gauck hatte die Ausweitung militärischer Aktionen Deutschlands im Ausland gefordert und diesen Politikwechsel mit einem „wertebasierten Sicherheitsbegriff“ begründet. Dazu lässt Anna Boghiguian zwei Menschengruppen auf Papier unter der Aufsicht von Militärs durch den Raum ziehen, versklavt, unterworfen, verängstigt (Men pulling Boat, 2016/ The Rational, 2016).
Außerdem: Kaum bekannte Collagen aus Creischers Frühwerk (Die Pauschalreise, 1987) treffen auf bislang unveröffentlichte Zeichnungen Boghiguians, die in Berlin entstanden (2013).
Text: Alexander Koch
Fotos: Ladislav Zajac
Anna Boghiguian & Alice Creischer
29.04.2022 – 25.06.2022