In seiner ersten Ausstellung bei SEXAUER unter dem Titel Bastard Club zeigte Alexander Iskin im Jahr 2014 Ölgemälde verstörend-komischer Mischwesen in apokalyptischen Landschaften. Zwei Jahre später mischte Iskin nicht mehr nur Wesen, sondern Wirklichkeiten. In seiner Ausstellung Reality Express untersuchte er malerisch und installativ, wie sich analoge und virtuelle Realität gegenseitig durchdringen. Der Interrealismus war geboren. Seitdem entwickelt und erkundet Iskin den Interrealismus als künstlerische Praxis, Ästhetik und Medienkritik. 2020 widmete ihm das Mönchehaus Museum seine erste institutionelle Einzelausstellung. Damit war auch der Interrealismus im Museum angekommen.
Nachdem Iskin die Interrealität ein halbes Jahrzehnt malerisch, installativ, filmisch und performativ erkundet hat, legt er nun einen interrealistischen Roman vor, der 2022 erscheinen wird. Werther to go. Dieser Text bildet buchstäblich die Grundlage für die gleichnamige Ausstellung. Auf den Boden der Ausstellungshalle hat Iskin hunderte gedruckte Romanzitate auf weißen Grund gesetzt. Die Halle wird zum White Cube, zum idealen und hermetischen Raum. Bewegen sich die BesucherInnen in diesem, nehmen sie lesend oder unbewusst die Textfragmente wahr.
In seinem Roman Werther to go beschreibt Iskin die Auswirkungen der Virtualität und des Digitalen auf die Generation Z, die Kohorte der Post-Millennials, die keine Welt ohne Internet mehr kennen. Durch digitale Manipulationen sind die Jugendlichen einer extremen Kommerzialisierung und auch anderen Manipulationen ausgesetzt. Während die Romanfragmente den Boden bedecken, hängen an den Wänden gemalte und teils dekonstruierte Portraits der fiktiven Romanfiguren. So begegnen wir im Inneren des Würfels der künstlerischen Transformation einer Lebenswelt der Generation Z.
In dem der Ausstellung zu Grunde liegenden Text von Iskin verliebt sich ein, bei einem Software-Unternehmen angestellter, Berufshacker in ein junges Mädchen, das er ausschließlich aus einem sozialen Netzwerk kennt. Das eher naturverbundene und zurückhaltende Mädchen ist neu in der Großstadt. Es hat Probleme mit seinen als cool geltenden MitschülerInnen, sucht Hilfe auf dem Internetportal gutefrage.net und liest Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther. Über eine künstliche Intelligenz, welche die Sprache Werthers imitiert, versucht der Berufshacker inkognito, das Mädchen auf der Plattform zu manipulieren. Dieses erweist sich jedoch als widerständig. Am Ende versucht der Hacker, die Protagonistin in seine Gewalt zu bringen, in der virtuellen wie auch der wirklichen Welt.
Natürlich ist es kein Zufall, dass die Protagonistin in Iskins Roman Die Leiden des jungen Werther liest. Der Werther wurde seinerzeit als Gegenentwurf zu einer als kalt und rationalistisch empfundenen Aufklärung verstanden. Für die Protagonistin in Werther to go ist der Werther auch ein emotionaler Gegenentwurf zur Kälte des Digitalen: Gefühl statt Kommerzialisierung, Wahrhaftigkeit statt Simulation, Natur statt McDonalds. Andererseits – und das ist das Paradox – beeinflusste Goethes Werther die Jugend damals ähnlich stark wie heute die digitalen Medien. Nach der Veröffentlichung des Romans im Jahr 1774 soll es zu suizidalen Nachahmungen gekommen sein, heute bekannt als Werther-Effekt. Dem nicht unähnlich, verabreden und diskutieren Jugendliche heute, über zweihundert Jahre später, ihren Freitod in Suizidforen.
Im Unterschied zur Werther-Zeit werden die Heranwachsenden heute nicht mehr durch die Lektüre eines exzeptionellen Buches beeinflusst, sondern verbringen einen Teil ihres Lebens in einer Parallelwelt der digitalen Realität. Nicht wenige sind süchtig nach dieser. Nur selten sind sie zur Gänze in der „wirklichen“ Welt, vielmehr fast immer mit mindestens einem Auge in der virtuellen. Gefangen in der Interreality. Scheinbar freiwillig. Tatsächlich manipuliert.
Seit Jahren reflektiert Iskin diesen Zustand zwischen den Realitäten. Mit Ironie und scharfem Blick transformiert er die interreale Welt in seine Kunst. In Werther to go zeigt er, selbst Angehöriger der Generation Y, uns nicht nur einzelne Bilder oder Objekte, vielmehr führt er uns in eine artifizielle Herzkammer des Interrealismus, um uns emotional mit diesem zu verbinden. Wir stehen auf dem Text und die Romanfiguren blicken in den Raum wie aus Fenstern. Dieser Eindruck wir dadurch verstärkt, dass die Bilder gerahmt sind. Es scheint, als stünden die Figuren zwischen unserer Welt, die wir als wirklich erfahren, und einer weiteren Welt jenseits des White Cube.
Die Ölportraits sind durch nicht-figurative Störungen verfremdet. Es scheint, als dringe eine jenseitige zweite Realität durch die Bilder zu uns hinein. Und so betrachten wir in Werther to go keine Mischwesen wie noch in Bastard Club, sondern gleichsam durch Fenster in eine andere Welt. Gleichzeitig hat man den Eindruck, sich in einem Panopticon zu befinden, jener Gefängnisform, in welcher die Insassen jederzeit beobachtet werden können, diesmal allerdings mit vertauschten Plätzen. Bei den BesucherInnen stellt sich das Gefühl ein, der Beobachtung durch die Romanfiguren nicht entgehen zu können. Auch scheint nicht ganz sicher, ob sich in den Bildräumen hinter den Portraits nicht noch weitere Personen befinden.
Iskin blickt kritisch auf das Leben in der Interrealität und die digitale Beschleunigung und Kommerzialisierung. Dies erkennt man an seiner Kunst, die immer ohne erhobenen Zeigefinger auskommt. Aus dieser skeptischen Haltung heraus könnte Iskin den Umstand, dass Menschen im Netz manipuliert werden, in Echokammern gefangen, und die damit verbundenen Gefahren, ebenso beschreiben wie einst Werther vor fast 250 Jahren seine Zeitgenossen: „Sieh den Menschen an in seiner Eingeschränktheit, wie Eindrücke auf ihn wirken, Ideen sich bei ihm festsetzen, bis endlich eine wachsende Leidenschaft ihn aller ruhigen Sinneskraft beraubt und ihn zu Grunde richtet.“
Werther to go, Titel der Ausstellung und des Romans. To go. Das To-Go ein Hin- und Her-Gehen zwischen den Welten? Die Abwesenheit von Ruhe und Stillstand. Die ewige Beschleunigung. Oder auch die Aufforderung, endlich zu gehen, sich all dem zu entziehen? Ein Gang zurück in die Realität. Vielleicht ist Iskin mit seiner Analyse des Interrealismus kein Träumer, sondern ein Realist.
Alexander Iskin lebt in Berlin, derzeit arbeitet er mit einem Stipendium der Pollock-Krasner Foundation in New York.
Alexander Iskin – Werther to go
3. November – 11. Dezember 2021