Neukölln: Von stummen und glänzenden Versprechen in alten und ganz neuen Welten:
Berlin ist immer für eine Überraschung gut! Dieses Mal flaniere ich staunend durch den Bezirk Neukölln. Von der ausgeprägten Kneipen- und Konzertkultur hier hat wohl jeder schon gehört: Rixdorf, Rollberg, Kindl-Brauerei und die Neue Welt – im Mai des Jahres 1967 rockte sogar Jimmy Hendrix hier. Seither ist irre viel passiert: Das Kindl, einst „Palast Berliner Bierkultur“, wurde unlängst vom ehemaligen Industriekomplex zum „Zentrum für zeitgenössische Kunst“ und realisiert seit 2016 Ausstellungen, Künstlergespräche, Vorträge und Konzerte. Flanieren wir von hier zum Herrfurthplatz Richtung Tempelhofer Flugfeld, kreuzen wir die wunderbare Schillerpromenade.
Der Schillerkiez in Neukölln wurde mit dieser breiten Promenade und prächtigen Fassaden um 1900 als Viertel für gutsituierte Bürger angelegt. Sie führt direkt auf die Leinestraße und endet dort mit Blick auf die ehemalige Ingenieurschule für Bauwesen.
[Oktober-Rundgang] Wir steuern die Luisa Catucci Gallery in der Allerstraße 38 an, weil die italienische Galeristin ab 4. Oktober den norwegischen Maler Kenneth Blom präsentiert.Kenneth Blom ist wirklich spannend: Er malt das Bild bis zu einem bestimmten Moment, den er einfriert und an sein Publikum weitergibt, denn von hieraus weiß auch er nicht, wie die Geschichte weitergeht. Kenneth Blom malt schätzungsweise zu zwei Dritteln abstrakt und in den letzten Arbeitsschritten entstehen auf seinen Leinwänden Architekturen und Figuren, mit denen er seine Kunst dann ins Jetzt katapultiert. Die Gestalten ziehen uns ins Bild. Auf diese Weise öffnet Kenneth uns die Tür, die allein dazu dient, unsere Geschichte zu finden. „Eine echte Lebensgeschichte besteht darin, dass du Menschen brauchst, um dich im Leben zu fühlen“, sagt er. Der Schluss liegt nahe, dass Kenneth‘ Bildsprache doch auch etwas mit seiner nordischen Herkunft zu tun hat: In Norwegen führen die Menschen keinen äußeren Krieg, jedoch einen inneren: den gegen die Einsamkeit. Isolation und Distanz bewohnen seine Bilder. Der Faktor Mensch, eingefasst in die urbane Landschaftskonstruktion der Moderne, trifft auf das natürliche Konzept, nicht alleine sein zu wollen.
Auf zu einer gesellig anmutenden Runde! Über die Rollbergsiedlung laufen wir Richtung Sonnenallee – ehemals Sektorengrenze während der deutsch-deutschen Teilung – und bleiben dann aber auf der Karl-Marx-Straße, wo uns in der Galerie im Saalbau zwei bemerkenswerte künstlerische Positionen erwarten: „Think positive!“ heißt die Schau von Thilo Droste und Saeed Foroghi.
Hier geht es um Sehen und Gesehenwerden, hallo Kunstmarkt! Thilo Droste hat in der Vergangenheit bei jedem Besuch einer Vernissage in den renommierten Galerien das Glas, aus dem er getrunken hat, am Ende des Abends mitgenommen. Alle Künstler, die Erfolg suchen, kennen die Ratschläge, möglichst regelmäßig bei Eröffnungen und anderen Events des Kunstbetriebes Präsenz zu zeigen, Gespräche zu führen mit den „richtigen“ Personen und ein Netzwerk aufzubauen. In Bruchstücke zerschlagen und zu neuen Formen gefügt werden die Souvenirs zu etwas, dem der Glanz eines Versprechens anhaftet. Die so entstandenen Objekte erweisen sich dabei als ebenso zerbrechlich und widerständig wie die Hoffnung, mit der sie ver- und entwendet wurden. Gezeigt werden hier 12 Glasobjekte und 5 Prints. Auf dem Foto im Hintergrund ist dazu ein „Verschollenes Gemälde“ zu sehen, eins von 14 Öl- und Tuschebildern, die Reproduktionen von Meisterwerken sind, die im Zeitraum 1939-45 verloren gegangen sind! Das ist nicht nur für Provenienz- und Sammlungsforscher wie mich interessant, sondern berührt, denn weil es von den entwendeten Meisterwerken nur noch schwarz-weiß Fotografien gibt, können wir ihre Farbigkeit bloß vermuten. Galerieleiterin Dorothee Bienert findet: „Die graugestuften Malereien von Thilo Droste können so als Platzhalter gelesen werden, als Geister, Erinnerungen oder Porträts von Abwesenheit und Verlust.“
Neben anderen Kunstwerken sei hier noch die „Ästhetik der Signifikanten“ von Saeed Foroghi aus dem Iran erwähnt: Um die Arbeit, 196 in Negativfarben gemalte Fahnen aller anerkannten Staaten der Welt, „positiv sehen“ zu können, sind die Apps „Negative Image“ oder „Foto-Editor“ hilfreich.
Ein paar Schritte entfernt zeigt übrigens die Galerie am Körnerpark, ebenso eine kommunale Galerie, aktuell die empfehlenswerte Gruppenausstellung „The Process of Becoming“, welche den klassischen Skulpturbegriff herausfordert.
Uns zieht es vorerst weiter, wir streifen den Reuterkiez am Hermannplatz, wo ganz in der Nähe ab 2021 die Sammlung Wemhöner ihre neue Dependance in einem alten, bislang noch nicht renovierten Ballhaus aus dem späten 19. Jahrhundert eröffnen wird – unbedingt im Auge behalten!
Kleine Stärkung gewünscht? Guten Kaffee und feinen Kuchen bekommen wir bei „Klötze und Schinken“, deren Café sich in einem Bruno Taut-Haus mit fünf Meter hohen Räumen und partiell eingebauten Zweitgeschosse sowie enorm großen Fenstern befinden.
Gleich um die Ecke erwarten uns die fotografischen Arbeiten von Jenna Westra bei Schwarz Contemporary in der Neuköllner Sanderstraße. „She’s Reading“ – erfrischend anders, amerikanisch, Fragen aufwerfend. Für einen lebendigen Austausch steht Galeristin Anne Schwarz bereit, die mit dieser Ausstellung für den mit 10.000 € dotierten VBKI-Preis BERLINER GALERIEN 2019 nominiert wurde.
Nun werde ich in den Nachbareingang entschwinden – zu Kunstleben Berlin. Mir wurde ein Kunstkurs, ja!, selbst Hand anlegen, geschenkt und ich freue mich riesig auf die beiden, Romy und Masch, die nun schon seit zehn Jahren ihre vielseitig-kreativen Programme entwickeln! Angefangen mit Kunstsalons, die eine unglaubliche Berlin-Energie lebten und mit locker über achtzig Gästen Live-Malkurse, Musik und Poesie zelebrierten.
Sie sind es auch, die das etablierte New York-meets-Berlin-Format umsetzen. Schauen Sie sich mal auf der Internetseite um – hier wird Kunst sichtbar! Mittlerweile ist Kunstleben Berlin eines der wichtigsten Online-Kunstmagazine und ab Mitte nächsten Jahres wird es dazu ein Kunstleben Magazin als Printmagazin geben.
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Danke, dass wir mit dir virtuell flanieren dürfen.
Liebe Friederike – herzlichen Dank! Ja, das muss auch mal sein, wenigstens virtuell.. Aber du kennst das alles ja mindestens genauso gut, “in live und in Farbe”! 😉 Bis zum baldigen Wiedersehen! Guten Rutsch! J
Meine Liebe, danke fürs mitnehmen, das ist so mitreißend und anschaulich geschrieben! Eine tolle Idee und spannend zu lesen…
???
Danke, liebe Lene! Das freut mich sehr! Wir können ja mal wieder zusammen flanieren :-*