Kunstleben Berlin Kolumne von André Lindhorst. Ein Computer, der eine kinetische Installation steuert oder hilft, digitale Simulationen zu entwickeln, durch die man mit einer 3-D-Brille spazieren kann, das alles hat man als jemand, der sich für Kunst interessiert, schon seit längerem erlebt. Aber dass eine Künstliche Intelligenz nicht nur „wie Beethoven komponieren, wie Monet malen und wie Hemingway schreiben“ (1) kann, das war bis in die späten 80er Jahre hinein noch völlig undenkbar.
Heute ist viel Normalität einkehrt. KI ist nicht mehr wegzudenken aus der Wirtschaft, der Medizin, der Verwaltung und auch der Kultur. Ich gebe zu, KI habe ich bis jetzt nur mit „spitzen Fingern angefasst“, etwa, wenn eine komplizierte Rechnung zu schreiben war. Doch darüber hinaus wollte ich mich nicht vereinnahmen lassen, wollte meine Originalität, meine Unverwechselbarkeit und Wahrhaftigkeit bewahren. Meine Leser sollen mir vertrauen können. Doch ich wollte auch meine Vorurteile und meine Skepsis ablegen und unvoreingenommen schauen, was KI so alles kann.
Also los, voller Neugier: Ich gebe ein Thema ein, sage der KI, dass ich einen Vortrag halten muss über Mode und gebe ein paar Stichworte ein. Kaum gepostet saust meine neue Freundin los, nimmt so richtig Fahrt auf und durchstöbert alles, was je ins Internet eingegeben worden ist. Keine zwei Minuten später kommt ein – orthografisch und sprachlich – perfekter Artikel, den jeder Chefredakteur eines Modejournals durchnicken würde.
Ich werde mutiger. Einen Krimi, den ich mal aus Langeweile im Urlaub begann und mit dem ich nicht weiterkam, weil mir nichts mehr einfiel, führt KI einfallsreicher, mit bildhafter Sprache sowie einer unerwarteten Pointe am Schluss zu Ende. Ich bin verblüfft.
Ich gebe ein Originalbild eines befreundeten Malers ein. Bitte analysiere diese Gemälde, befehle ich der KI. Zurück kommt innerhalb weniger Sekunden eine klassische Bildanalyse, so klar und überzeugend, dass ich dem Text kaum etwas hinzufügen vermag. Erstaunlich!
Ich bitte um eine Kunstkritik zu dem Gemälde. Die ist ebenso blitzschnell da und ohne jeden menschlichen Makel. Meine Bewunderung wächst! Keine Herablassung, keine Häme, kein Spott.
Ich hatte einen deutschsprachigen Song im Kopf, aber nur Stichworte angefangener Strophen. Ich frage KI, ob sie in der Lage sei, mir daraus einen fertigen Song zu kreieren in der Art eines Countrysongs. In nur einer Minute schickt mir KI gleich mehrere Varianten mit drei Strophen, einem Refrain, einem kompletten Orchester, einem Chor und einer markigen Solostimme. Ein Coverbild für den Track und den kompletten Text fügt meine neue Assistentin noch bei. Ich bin Baff!
Per ChatGPT lädt mich KI auf ein Interview ein. KI stellt, je mehr ich ihr aus meinem Leben verrate, immer cleverere Frage zu meinem Lebenslauf und bringt die Sache schließlich mit der Frage auf den Punkt, welches grundsätzliche gesellschaftliche Konzept ich als Kurator verfolge. Ich kann es kaum glauben!
Alles ist in Nullkommanix da, ohne dass ich dafür auch nur einen Cent bezahlen muss. Ich hätte mir das im Traum nicht vorstellen können. Warum die eigene Fantasie einspannen, frage ich mich, wenn man eine so unentwegt arbeitende, konstruktive und inspirierende Assistentin hat, die einem in allem unterstützt und ein Stück weiterbringt? Ich hätte mir nur noch gewünscht, dass KI mir mal nett zurückschreibt: “Bis auf bald. Herzlichst, deine KI.”
Aber bei all der Sympathie, die ich langsam für KI entwickle, frage ich mich: Was bleibt dem Menschen an Einzigartigkeit angesichts der unglaublichen Fähigkeiten von KI? Wahrhaftigkeit? Oder wie Gerhard Vowe schreibt: “Kreativität, Empathie, Emotion, Selbst-Bewusstsein, Verantwortung?” (2)
Was macht das mit den Kulturschaffenden selbst und mit der bis dahin fest gefügten Ordnung der Kunst, wenn sich KI aus der Kreativität ganzer Generationen bedient – von den Lebenden wie von den Toten? Was macht das mit dem schöpferischen Akt des kulturellen Schaffens? Was macht das mit der Originalität, der Aura eines Kunstwerks? Was macht das mit Journalisten, Autoren, Dichtern, Künstlern, Songwritern, Kuratoren oder Kunstkritikern, wenn sie sich ihre Texte und ihre Bilder von einem anonymen Algorithmus erstellen lassen? Sind sie dann noch glaubwürdig? Vertraut man ihnen dann noch? Kommt da nicht doch mal einer um die Ecke und sagt: „Alles nur geklaut?“
Und überhaupt, was braucht man noch, um das Kunstschaffen zu erlernen? Eine akademische Ausbildung, oder nur noch technische Kompetenz? Kann jetzt wirklich jeder ein Künstler sein, ein Schriftsteller oder ein Songwriter – auch ohne Talent, nur weil er weiß, die KI zu bedienen? Wird es bald Kunstwerke geben, die keine Provenienz mehr aufweisen, die sich auf keinen einzelnen Künstler mehr beziehen und deren Signatur nur noch auf einen Anonymous verweist? Längst kann KI die Stilistiken weltbekannter Künstler kopieren, sogar pastose Malweisen imitieren. Bald wird ein Kunstprodukt von KI auch nach Farbe riechen. „Computerisierte Materialität“ nennt der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht das. Die virtuellen Möglichkeiten sind unendlich. Ist zukünftig „Jeder Mensch ein Künstler“, wie Joseph Beuys das vorhergesagt hat?
Die Medienrevolution und die Veränderung unserer Wahrnehmung sind in vollem Gang. Was wäre der nächste Schritt? KI, ausgestattet mit eigener Persönlichkeit, charismatisch und emphatisch und zudem auf jeden, der ihre Dienste in Anspruch nimmt, individuell reagierend. Und statt meinen Psychologen in Anspruch zu nehmen, wird es bald ein Algorithmus sein, der mich empfängt und mir mit einschmeichelnd sympathischer Stimme seine Verschwiegenheit garantiert.
Doch bei allem, so glaube ich, werden Kunstschaffende sich nicht mit Nebenrollen begnügen müssen. KI fehlt der Eigensinn und das Vermögen, wirklich Neues in der Kunst von sich aus zu entwickeln. Aber KI scheint mir ein Anreger, ein Inspirator, ein Ermutiger zu sein und als Werkzeug ein talentierter Unterstützer. KI ist allerdings auch ein Algorithmus aus der virtuellen Welt, der die Künste fordern und dem Markt einen gewaltigen Schub geben wird.
- Der Tagesspiegel, 11. Mai 2024, Autor: Adrian Lobe
- Der Tagesspiegel, 13. Februar 2024, Autor: Gerhard Vowe