Hans Josephsohn’s Werk ist geprägt von seiner Faszination für Masse und Form im Raum, die er anhand spezifischer und stets wiederkehrender Formen im Laufe der sechs Jahrzehnte seines bildhauerischen Schaffens immer wieder neu austarierte. Josephsohn arbeitete in verschiedenen Gattungen, darunter die stehende Figur, die liegende Figur, die Halbfigur und Reliefs, wie sie auch in der aktuellen Ausstellung präsentiert werden. Dabei zeichnen sich die Skulpturen durch eine intensive körperliche Materialität aus. Für Josephsohn manifestierte sich der Mensch im Körper, die menschliche Existenz war durch ihre Körperlichkeit gekennzeichnet.
Josephsohn arbeitete fast immer direkt nach seinen Modellen, bei denen es sich zumeist um Ehefrauen oder Partnerinnen handelte. Ihre Namen sind manchmal in den Titeln der Werke enthalten, so auch bei zwei ausgestellten Beispielen, die sich auf “Ruth” beziehen –Josephsohns wichtigstes Modell in den 1960er und frühen 1970er Jahren. Diese Arbeiten nahmen selten den Ausdruck von Porträts an und basierten stattdessen auf Eauf der Wahrnehmung der Person. Er bewegte sich allmählich vom fast Abstrakten zum Figürlichen und wieder zurück. Während Josephsohns frühe Werke noch das schlanke Erscheinungsbild von Stelen bewahren, interessierte sich der Künstler später dafür, das Volumen und die Form seiner Figuren zu steigern, indem er mit schnelltrocknendem Gips arbeitete, den er dann in Messing oder Bronze giessen liess. Spuren seiner Suche nach dem perfekten Ausdruck durch die Form lassen sich in den Zugaben und Abnahmen von Material und in den Abdrücken seiner Finger auf den fertigen Werken erkennen.
Die Auswahl der Werke in aktuellen Ausstellung in der Bleibtreustraße 45 orientiert sich an der Architektur der ursprünglich als Wohnung gebauten Räumen der Galerie. Die Skulpturen und Reliefs fügen sich harmonisch in die Wohnräume ein und lenken den Blick auf das Zusammenspiel der Proportionen von Skulptur und Umgebung. Eine grosse Halbfigur Untitled von 1974–75 sprengt diesen Rahmen nicht sondern legt den Fokus auf dem Massstabssprung zwischen der überlebensgrossen Büste und einer nur ca. 70 cm hohen ganzfigurigen Stehenden. Im zweiten Raum sind verschiedene menschliche und möglicherweise skulpturale Figuren in einem Relief gruppiert, dem zwei Skulpturen in ähnlichem Stil – eine stehende Frau und eine kleine Halbfigur – aus der gleichen Schaffensperiode gegenübergestellt sind. Der dritte Raum ist geprägt von der Kombination einer kleinen, sehr figürlichen und einer weit überlebensgrossen, stark abstrahierten Büste und zeigt so die grosse Bandbreite, welche Josephsohn im eng gefassten Genre der Halbfigur ausreizt. Den letzten Raum bestimmt der Kontrast zwischen der horizontalen Ausrichtung der liegenden Figur und der ausgeprägt vertikal orientierten, frühen Stele. Die Ausstellung ist also nicht chronologisch aufgebaut, sondern orientiert sich an den Bezügen, welche sich zwischen Josephsohns Skulpturen und der sie umgebenden Architektur sowie zwischen verschiedenen Werken entwickeln.
Die beiden Räume schräg vis-a-vis, im Parterre der Bleibtreustraße 45, haben einen expliziten Bezug zum urbanen Raum der Strasse und sind auch ausserhalb der Öffnungszeiten einsehbar. Die vier hier ausgestellten, grossen Werke könnten alle genauso gut auch im öffentlichen Raum selbst stehen.
Hans Josephsohn (1920–2012) lebte und arbeitete in Zürich. Einzelausstellungen seiner Werke fanden in internationalen Institutionen statt, darunter MASI – Museo d’arte della Svizzera Italiana, Lugano (2020-2021); Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen (2020); ICA Milano (2019); Museum Folkwang, Essen (2018); Kunstparterre, München (2015); Modern Art Oxford (2013); Yorkshire Sculpture Park, Wakefield (2013); Lismore Castle Arts (2012); MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main (2008); Kolumba – Kunstmuseum des Erzbistums Köln (2005); und Stedelijk Museum, Amsterdam (2002), neben anderen wichtigen Museen. Werke von Josephsohn waren auf der 55. Biennale von Venedig (2013) prominent vertreten. Zwei permanente Installationen von Josephsohns Werk sind der Öffentlichkeit zugänglich: Das Kesselhaus Josephsohn, ein Ausstellungs- und Galerieraum in St. Gallen, Schweiz, das den Nachlass des Künstlers beherbergt, und La Congiunta, ein kleines Museum in Giornico, Schweiz, das von dem langjährigen Freund und Architekten des Künstlers, Peter Märkli, entworfen wurde.
Werke von Hans Josephsohn befinden sich unter anderem in den Sammlungen des Aargauer Kunsthauses, Aarau, des Kolumba –Kunstmuseum des Erzbistums Köln, des Kunsthauses Zürich, des Kunstmuseums St. Gallen, des Museum Folkwang, Essen, des Kunstmuseums Appenzell, des Museums zu Allerheiligen, Schaffhausen, des MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, der Neuen Nationalgalerie, Berlin, und des Stedelijk Museum, Amsterdam.
Das Werk von Hans Josephsohn wird 2024 in einer von Albert Oehlen kuratierten Einzelausstellung im Musée d’Art Moderne de Paris zu sehen sein.
Hans Josephsohn
17. November 2023 – 6. Januar 2024