Jeannette Hagen zum 10jährigen Jubiläum von Kunstleben Berlin.
Der Tag hat nur 24 Stunden. Hinter dieser zunächst sehr banalen Aussage versteckt sich ein ganzes Universum an Möglichkeiten. 24 Stunden Zeit, die wir füllen, mit der wir etwas anfangen können und die uns zuverlässig – bis zum letzten Atemzug – um 0 Uhr wie ein weißes Blatt vor die Füße gelegt wird. Somit sind wir im Grunde alle Künstler – vielleicht nicht im Sinne Beuys‘, aber dennoch im Gleichnis mit dem Maler oder dem Schreiber, die auch stets aufs Neue vor einem leeren Blatt oder einer weißen Leinwand stehen oder sitzen. Schritt für Schritt können wir die Stunden gestalten, sie zeichnen, ihnen ein Gesicht geben, sie Handlung um Handlung in ein Tagwerk verwandeln.
Den Satz mit den 24 Stunden hat mir übrigens mein Mann geschenkt. Wir machen das manchmal, dass er die ersten Worte für einen Text auswählt. Das führt zuweilen zu skurrilen Geschichten, spätestens dann, wenn Kirchenbank oder Knäckebrot den Anfang bilden. Aber es zwingt mich auch, mich einzulassen, vor dem Fremden nicht zu scheuen, sondern offen für das zu sein, was dann kommt.
Was das mit Kunstleben Berlin zu tun hat, werden Sie sich jetzt vielleicht fragen. Geduld.
Als ich das erste Mal vor knapp zehn Jahren eine Vernissage von Kunstleben Berlin mit einer kleinen Rede eröffnen durfte, hieß der Satz: „Es ist Frühling“ und ich werde nie vergessen, wie still es im Raum war. Seither ist viel passiert und doch gibt es Konstanten. Eine ist die Leidenschaft, mit der Romy und Masch einen Teil ihrer 24 Stunden Kunstleben Berlin widmen. Die andere das – manchmal knapp an der Verzweiflung vorbeigeschrammte Bewusstsein, dass die Idee, mit Kunstleben Berlin Kunst auf einem hochwertigen Niveau analog und online zu präsentieren und sie damit für alle zugänglich zu machen, schlichtweg wertvoll ist.
Der Tag hat nur 24 Stunden und wir wissen alle, dass ein großer Teil davon in einem Wust aus Verpflichtungen versinkt. Kunstleben Berlin war für Romy und Masch nie eine Verpflichtung und doch ist es trotzdem eine. Ein Paradox, das sich schnell auflöst, weil wir alle wissen, dass es Vereinbarungen gibt, die man nur mit sich selbst abschließt. Bei denen man einziger Zeuge, einziger Richter ist und die für das Scheitern einfach nicht vorgesehen sind. Das schließt nicht aus, dass es viel Kraft kostet, sich dafür Lücken freizuschaufeln. Und meist ist es so, dass gerade jene Projekte, die die das Herz berühren, eher selten monetär honoriert werden. Ich habe seit kurzem selbst ein kleines Unternehmen, in dem Kunst eine Rolle spielt und als ich dem Intendanten des Atze Musiktheaters davon erzählte, lachte er mich an oder aus und fragte: „Und damit willst Du Geld verdienen? Mit Kunst?“
Es gehört viel Herzblut dazu, etwas in die Welt zu bringen, von dem man nicht weiß, ob es Früchte trägt. Noch mehr Herzblut erfordert es, dem treu zu bleiben, was man erdacht hat, selbst dann, wenn die Zeichen zwischendurch auf „Abbruch“ stehen. Zehn Jahre sind eine lange Zeit.
Etwas durchzuziehen erfordert Mut und damit sind wir wieder bei den Künstler*innen oder den Schreiber*innen, die ebenso mutig sein müssen, wenn sie das Blatt oder die Leinwand füllen wollen. Die beharrlich gegen die eigenen Zweifel, gegen Vorurteile und gutgemeinte Ratschläge ankämpfen und dem Raum geben, was sich zeigen will. Die zwischendrin auch korrigieren, umwerfen, neu beginnen, aber nicht aufgeben und dafür manchmal von den Göttern der Kreativität belohnt werden.
Der Tag hat nur 24 Stunden und wenn ich sehe, wo Kunstleben Berlin heute steht, dann weiß ich, dass es für uns alle ein Geschenk ist, dass Romy und Masch, später auch Herbert, von den 87.660 Stunden, die in zehn Jahren vergangen sind, so viele in dieses Unternehmen investiert haben.
Der Wandel, den wir derzeit auf fast allen Ebenen erleben, fordert uns Menschen viel ab. Wir müssen uns neu ausrichten, müssen unseren Standort bestimmen, Antworten auf Fragen nach der Identität – unserer eigenen und der der anderen finden. Und wir müssen klären, wie wir zukünftig leben wollen. Welchen Sinn es zum Beispiel hat, einen großen Teil das Tages mit Arbeit zu füllen für Geld, das am Ende vielleicht nicht einmal dafür reicht, zu leben.
Wir brauchen die Kunst für diese Reise. Wir brauchen den Kern der Kunst, die Fähigkeit, aus einem Impuls heraus etwas zu erschaffen. Den Glauben daran, dass die Gestalt, die wir sehen, wie bei Michelangelo schon da ist und nur vom Stein befreit werden muss. Wir brauchen das, was ich nutze, wenn ich mir fremde Satzanfänge schenken lasse – also Offenheit für einen Weg, von dem wir nicht wissen, wo er uns hinführt und wir brauchen Vorbilder, die all dem tagtäglich begegnen, indem sie ihrer Leidenschaft und ihren künstlerischen Ambitionen folgen.
Ob Malerei, Poesie, Film oder Musik – Kunst öffnet Räume, verschiebt Perspektiven, hilft, uns unserer Selbst zu vergewissern. Kunst ist nicht weniger als Ausdruck und Mittel der Evolution des Menschen. Marx nannte sie die „absolute Bewegung des Werdens“. Gleichzeitig ist die Kunst Gradmesser für unsere Freiheit, hat Warnfunktion und hilft uns, in einer Welt der Logik zu fühlen. Darum ist es so wichtig, dass sie für alle zugänglich, kein Privileg ist.
Und darum ist es so großartig, dass es ein Format wie Kunstleben Berlin gibt, das nicht einfach nur eine Online-Plattform ist, sondern den Rahmen dafür schafft, das Künstler, Galeristen, Meinungen und Kunst für jeden sichtbar sind. Dass es Begegnung – wie heute Abend hier – geben kann, man sich näherkommt und Kunst damit den Charakter der Unantastbarkeit verliert. Kunstleben Berlin lebt Kunst.
Der Tag hat nur 24 Stunden, also nutzen wir einen Teil davon, auf Kunstleben Berlin, auf Romy, Masch und Herbert anzustoßen, uns dankbar zu zeigen für das Engagement für die Kunstszene Berlins und für diesen wundervollen Abend.
DANKE für zehn Jahre Kunstleben Berlin!
Liebe Janette Hagen, danke für den Text, die passenden Worte für KulturLeben in Berlin und sonstewo, wie der Berliner sagt. Unsere Gemeinschaftsausstellung 30 JAHRE MAUERFALL IN DER KUNST ruft danach. Es erscheint mir unfassbar zu sein was Künstler*innen immer wieder tun dürfen*müssen damit Kreativität ins alltägliche gesellschaftliche Leben einziehen kann. Wir eröffnen am 24. Okt. 2019*19h im Kulturzentrum Rathenow die Ausstellung im Sinne von mehr Kunst statt Gewalt, Demokratie und Menschenrechte mit einer Performance. Herzlich willkommen – Ihre Marina Prüfer
Pingback: In Bildern: 10 Jahre Kunstleben Berlin - Kunstleben Berlin - das Kunstmagazin